Normalität statt Charisma im Management
Philipp Riederle, der mit 13 Jahren seinen ersten Podcast startete und Videos für YouTube drehte, arbeitet heute als Unternehmensberater und Experte für die „Generation Internet“. In seinem Buch „Wie wir arbeiten und was wir fordern“ beschäftigt er sich mit sinnstiftender Arbeit als Teil der eigenen Identität und guter Führung. Richtiges Management ist für ihn ohne die richtigen Strukturen und Einsichten nicht möglich:
„Statt Weitblick ist eigentlich stinknormale Planung gefragt.“
Wenn er schreibt, dass die einstigen (Spiel-)Regeln und Definitionen von Arbeit und Unternehmensführung „plötzlich außer Kraft gesetzt zu sein“ scheinen, zeigt dies einmal mehr, dass er intuitiv erfasst hat, was der Managementvordenker Fredmund Malik bereits vor über 20 Jahren vorhersagte: Die Neue Welt entsteht durch die Große Transformation21, wie Malik 1997 den fundamentalen (nach Riederle „krassen“) Umwandlungsprozess nannte. Diese Transformation ist eine Grundlage, ohne deren Kennen bzw. Verstehen Organisationen nicht richtig geführt und transformiert werden können.
Die treibenden Kräfte dieser Transformation fasste er in fünf großen Problemfeldern zusammen: Demografie, Technologie, Ökologie, Verschuldung und Komplexität. In seinem Buch „Die richtige Corporate Governance“ schrieb er damals, dass Wirtschaft und Gesellschaft eine der größten Umwandlungen durchlaufen, die es geschichtlich je gab: „Sie ist in Ausmaß und Bedeutung vergleichbar mit Entwicklungen, wie sie historisch erstaunlicherweise etwa alle 200 bis 250 Jahre zu verzeichnen sind.“ Eine derartige Transformation fand im 13. Jahrhundert statt. Eine weitere tiefgreifende Umwandlung folgte zwischen 1455 und 1517 - beginnend mit der Erfindung des Buchdrucks und geprägt durch die Reformation. Die bisher letzte derartige Transformation begann Mitte des 18. Jahrhunderts.
Die „gegenwärtige Transformation“ wird als dramatischer empfunden als die früheren, weil die demografische und psychologische Ausgangslage verschieden ist.
„Der Anpassungsdruck, der sich früher auf mehrere Generationen verteilte, trifft heute geballt eine einzige Generation. Das ist der demografische Aspekt.“ Auch die Politik sei in fast allen Dimensionen unberechenbar, unwirksam und unglaubwürdig geworden: „Kaum ein Bereich wird so weitergeführt werden können wie bisher.“ Maliks Kritik von 1997, dass die Natur dieses Wandels von vielen Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft nur schlecht verstanden wurde, ist aktueller denn je: „Ein erheblicher Teil der öffentlichen Diskussion konzentriert sich auf die falschen Schwerpunkte, sie wird in den Denkkategorien der letzten 100 Jahre geführt, und man läuft daher Gefahr, auf die wirklich wesentlichen Faktoren dieser Transformation und deren Auswirkungen unvorbereitet zu sein. Man gibt heute viele sehr gute Antworten – leider auf viele falsche Fragen.“
Eine Vielzahl von Beispielen für falsch verstandenes Management findet sich auch in Riederles Buch, in dem Maliks „Warum“ wie ein roter Faden eingewoben ist. „Der Transformationsprozess verändert nicht nur, was wir tun und wie wir es tun, sondern auch, warum wir es tun“, schrieb Malik schon damals und betonte, dass nicht die gewöhnliche, sondern die außergewöhnliche Situation Richtschnur sein muss. Nicht der Trend, sondern der Trendbruch ist wesentlich. 2015 fasste er seine Ergebnisse im Sachbuch „Navigieren in Zeiten des Umbruchs“ zusammen, in dem er sich Denkprinzipien und Regeln des Handelns bei Ungewissheit und hoher Komplexität widmet: Das Navigieren verlangt von Führungskräften der Gesellschaft vor allem kopernikanische Fähigkeiten. In diesem Zusammenhang räumt er auch mit dem Geniekult auf, denn um sich im Unbekannten („wenn die Standorte ungewiss, die Ziele beweglich und die Wege vielfältig sind“) zurechtzufinden, genügt auf weite Strecken ein bestimmtes „Handwerk“. Auch in der Politik ist in der Corona-Pandemie spürbar, dass es vor allem die nüchternen, etwas langweilig und blass wirkenden Personen sind, die das Land durch die Krise führen.
Gute Führungskräfte wenden für das Wissen-Wollen die stärkste Heuristik an und fragen: „Ja, stimmt denn das?“
Wissen bewahrt sie vor Irrtümern und macht sie immun gegen Moden. Die Wirkung von Charisma bestreitet Malik nicht. Allerdings können charismatische Führer auch gefährlich sein, weil sie sich (durchaus ihrer Wirkung bewusst) häufig nicht an Regeln halten und auch polarisieren. Ihre Wirkung sei zwar wichtig, muss aber kontrolliert sein durch Verantwortung (die einzig haltbare Legitimierung von Hierarchie). Oft sind sie impulsiv und neigen sie zur Eitelkeit. Echte Leader stützen sich bei der Lösung ihrer Aufgaben nicht auf Charisma (das nichts über Kompetenz aussagt), sondern führen sachlich und vernünftig durch Selbstdisziplin und durch Vorbild, nicht durch Parolen und Hurrageschrei. Sie sehen es als ihre Pflicht an, Situationen zu meistern, Gefahren abzuwenden oder Chancen zu nutzen. Ihre Motivation und Kraft kommen aus der Aufgabe, die sich ihnen stellt.
Es ist erstaunlich, dass zwei so unterschiedliche Generationenvertreter und Bücher die handwerkliche Profession herausstellen und das weniger Spektakuläre nachhaltig würdigen. Die Generation Y, die im Fußball auch "Generation Nagelsmann" genannt wird, ist mit ihrer Digitalreife auch bodenständiger geworden. Der Wunsch und die Hoffung des RB-Leipzig-Trainers für 2021 vereint Manager, Führungskräfte und Sportler gleichermaßen: "Guter Fußball und zutück zur Normalität" - bis zur eigenen Familie. Nie war die Sehnsucht nach dem Selbstverständlichen so groß wie heute. Von einer "faden Spießervokabel ist ein Sehnsuchtswort geworden" (Tobias Moorstedt).
Weiterführende Literatur:
Alexandra Hildebrandt: Kopf oder Bauch? Wie wir heute die richtigen Entscheidungen treffen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Fredmund Malik: Die richtige Corporate Governance. Mit wirksamer Unternehmensaufsicht Komplexität meistern. Umfassend aktualisierte Ausgabe: Die Neue Corporate Governance. Richtiges Top-Management – wirksame Unternehmensaufsicht. 3., erweiterte Auflage, Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine Buch 2002 (1. Auflage 1997)., Campus: Frankfurt am Main/New York, 2008.
Fredmund Malik: Gefährliche Managementwörter. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017.
Fredmund Malik: Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten. Campus Verlag Frankfurt am Main 2015.
Tobias Moorstedt: Lebe lieber gewöhnlich. In: Süddeutsche Zeitung (23./24.1.2021), S. 51.
Philipp Riederle: Wie wir arbeiten und was wir fordern. Die digitale Generation revolutioniert die Berufswelt. Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2017.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.