Penner oder Philosoph? Was Begegnungen mit Menschen so wertvoll macht
Der Chef ist doof, die Kollegen nerven und die Kunden sind lästig. Häufig ist es dieses Bild, das Angestellte zeichnen, wenn sie zu mir ins Coaching kommen. Werfen wir im Gespräch einen genaueren Blick auf ihr Umfeld, so sieht die Welt oft anders aus. Ich möchte Sie heute mit diesem Beitrag an einem persönlichen Erlebnis teilhaben lassen. Auch wenn dies auf den ersten Blick nichts mit Beruf und Karriere und dem zu tun hat, was Sie sonst hier von mir gewohnt sind, lässt Sie meine Geschichte vielleicht auch wieder neu auf Ihren Chef, die Kollegen oder andere Menschen blicken:
Ich sitze in der Straßenbahn von Refrath nach Köln. Es ist Samstag, der 23.12., kurz vor Mitternacht. In dieser Fahrtrichtung offenbar die Hauptreisezeit für Partygänger. Mich jedoch zieht es verschwitzt und leicht alkoholisiert nach vier Stunden weihnachtlicher Standard-Latein-Tanzparty vor allem in mein Bett. Knapp 30 Minuten dauert die Fahrt, Zeit zum Abkühlen und den Puls auf Ruheniveau zu bringen. Je näher wir Richtung Köln kommen, umso voller wird es. Drei Männer steigen an der Tür direkt vor meinem Platz ein. Einer von ihnen – ich schätze ihn auf Mitte 50 – sehr ungepflegt, nur noch wenige Zähne im Mund, lange, fettige Haare, verschmutzte Kleidung. Die beiden anderen, jünger als ich, sind Köln Besucher aus Stuttgart – wie ich später erfahre. Beim Einsteigen bekomme ich mit, wie sich die drei unterhalten, der „Zahnlose“ gestikuliert dabei mit seinen Händen. Die beiden anderen, sichtlich genervt von ihrem Anhängsel aus der Bahnstation, setzen sich weiter nach hinten. Der ältere Mann, dessen Blick zu mir ich kurz wahrnehme, nimmt neben mir auf der anderen Seite des Ganges Platz.
Ich ziehe das Handy aus der Jeans und scrolle dumpf durch meine Social-Media-Kanäle. Denn auf Konversation in der Bahn habe ich jetzt umgeben von Betrunkenen und selbst reichlich erschöpft so keine Lust. Mit einem Klaps auf meine rechte Schulter werde ich unvermittelt aus meinem Facebook Ablenkmanöver gerissen und noch bevor ich zu ihm hinüber schauen kann, höre ich: „Weißt Du, nur wenige Menschen leben wirklich im Moment.“
Ich bemerke, wie ich kurz überlege, ob ich ihm meine Aufmerksamkeit schenken soll, blicke dann nach rechts rüber, sage „Ja, ja, so ist das.“ und wische weiter über mein Handy. Ruhe. Habe ich es etwa geschafft, ihn abzuwimmeln? Einige Sekunden vergehen. Die beiden Jungs aus Stuttgart im hinteren Teil der Bahn sehen mich grinsend an.
„Ich habe viel über Buddhismus gelesen und Meditation und es ist genau dieser Moment der Leere im Kopf, der uns im Leben so sehr erfüllen kann.“, sagt er, während ich weiter auf mein Handydisplay schaue. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er sich von seinem Sitz erhebt und schwankend zu mir rüber beugt. „Ich möchte niemanden belehren und habe das ja auch nur aus Büchern, aber es ist so schade, dass viele Menschen nicht bei sich selbst sind.“ Ich blicke schräg zu ihm hoch, sein Oberkörper hatte bereits gefühlt meine Sicherheitszone im Raum durchkreuzt. Ein weiterer Klaps auf meine Schulter. „Ja, ich habe schlechte Zähne, das tut mir leid, aber was ich Dir jetzt sage, ist sehr wichtig.“ Hatte ich etwa zu offensichtlich auf oder besser gesagt in seinen Mund geschaut? – Es ist mir unangenehm.
Mir schossen plötzlich viele Gedanken durch meinen müden Kopf: Wie stark seine Wahrnehmung doch ist. Wie empathisch er zu sein scheint. Wie reflektiert er sich selbst gegenüber ist und Dinge anspricht. Und wieviel Wahrheit in alldem steckt, was er mir unverlangt zwischen zwei Haltestellen mal eben wortwörtlich an den Kopf wirft.
Ich bemerke in diesem Moment, wie sich meine Stimmung verändert und spüre die Lust, ihn besser kennenzulernen. Ich möchte mehr über seine Sichtweisen und sein Leben erfahren und vielleicht auch meine Erfahrungen aus der Arbeit als Coach mit ihm teilen.
Gleichzeitig spüre ich Ärger und es tut mir leid, dass ich ihn so vorschnell in eine Schublade gesteckt und mein Verhalten daran ausgerichtet habe. Ich merke in diesem Augenblick, wie ich mein „Bitte nicht stören!“-Schild im Kopf abhänge und lasse mich bewusst auf ihn ein. Ich nehme noch kurz die anderen Fahrgäste wahr, wie sie mich ansehen und vermutlich denken „Der Arme, jetzt hat der Penner ein neues Opfer gefunden“, doch im nächsten Moment verschwinden alle anderen um mich herum im Kopf wie in dichtem Nebel.
Ich drehe mich auf meinem Sitz zu ihm hin und sage „Es beeindruckt mich, was Du sagst. Woher weißt Du das alles?“ Er erzählt mir, dass er in den letzten Jahren sehr viel über Buddhismus gelesen und das Verhalten vieler Menschen studiert habe. Ich beginne zu erzählen, welche wertvollen Erfahrungen auch ich während meiner Ausbildung zum Coach mit Meditation gemacht habe. Er unterbricht mich immer wieder und klopft mir dabei – für mein Empfinden immer noch zu nah an mir dran – immer mal wieder auf die Schulter. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir wirklich zuhört, denn es scheint, als wolle er doch vor allem seine Botschaften an den Mann bringen.
Also höre ich ihm einfach zu, schließlich hat er ja etwas zu sagen. Ich schenke ihm meine volle Aufmerksamkeit und höre aktiv zu, nicke zustimmend und gebe ihm interessiert den Raum, das zu sagen, was ihm wichtig ist. Und alles das, was er sagt, klingt so klug, ja fast weise aus seinem Mund. Es bewegt etwas in mir, macht mich nachdenklich und ich spüre, wie wertvoll diese Begegnung für mich in diesem Moment ist. Ich bin glücklich, ihm einfach nur zuhören zu können.
Unvermittelt steht er hastig auf und geht in Richtung Tür. Ich bemerke, dass ich sogar etwas traurig bin, dieses Gespräch so abrupt beenden zu müssen. Ich sage „Danke für Deine wertvollen Gedanken und Dir alles Gute!“. Er sieht mich mit einem Ausdruck der Verwunderung an und ich kann erkennen, wie sehr ihn meine Verabschiedung und das Gesagte verunsichert, aber auch emotional bewegt. Ich schiebe noch ein „Ich wünsche Dir ein friedliches Weihnachtsfest.“ hinterher, bevor sich die Türen öffnen und er aussteigt. Er dreht sich um, schaut noch einmal zu mir, nickt, und geht dann den Bahnsteig entlang.
Die Bahn fährt weiter, ich habe noch drei Stationen bis zum Rudolfplatz. Ich entdecke die beiden Stuttgarter, die von ihren Sitzen aufstehen und zu mir kommen. „Na, hat Dich der Verrückte auch so elendig zugetextet?“ – „Nein. Und er ist nicht verrückt, sondern ich halte ihn für sehr klug“, antworte ich ihnen.
So kurz unser Kontakt auch war, hat er mich im hektischen Weihnachtstrubel und mitten im stressigen Umzug in mein neues Büro daran erinnert, was die Begegnung zwischen Menschen wirklich wertvoll macht: Offenheit anderen gegenüber, echtes Interesse für ihre Sichtweisen sowie deren Wertschätzung. Ich habe in dieser Nacht mein oberflächlich flüchtiges Bild von einem Fremden hinterfragt und wurde überrascht, welches neue Bild eines liebenswerten Menschen sich entwickelt hat.
Welches Ihrer (Menschen-)Bilder möchten Sie neu belichten?
Vielleicht lohnt es sich auch für Sie, Ihr womöglich in die Jahre gekommenes Bild etwa vom blöden Chef, der unfähigen Kollegin oder dem nervigen Kunden bei der nächsten Begegnung einmal ganz bewusst neu zu belichten. Sie entscheiden, durch welche Brille Sie anderen Menschen begegnen – und auch, in welches Licht Sie sie selbst stellen.
Schreiben Sie mir doch einmal unten in den Kommentaren, was Ihnen gerade durch den Kopf geht oder welche Begegnung mit einem Menschen für Sie besonders wertvoll war.
(Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Karriere-Blog "Perspektivwechsel")
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