Politische Unwetter: Warum wir wieder festen Boden unter den Füßen brauchen
Das terrestrische Manifest
Woher kommt unsere Panik und Hilflosigkeit? Allen wankt gleichzeitig der Boden unter den Füßen, „so als fühlte man sich in all seinen Gewohnheiten und in all seinem Hab und Gut angegriffen“, schreibt der französische Soziologe Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest. Wer „landen“ möchte, muss sich zunächst richtig orientieren und eine „Karte der Positionen“ entwerfen. Alles muss seiner Meinung nach aufs Neue kartografiert werden. Kartografie gilt als hohe Kunst und Wissenschaft. Das Wissen darüber half in der Vergangenheit, Kriege zu gewinnen oder neue Märkte zu erschließen. Es ging um Macht, die mit der Globalisierung der Erde durch die frühen Händler-Seefahrer und Kosmographen einherging.
Das TERRESTRISCHE ist für Latour eine NEUE WELT, die allerdings nicht jener ähnelt, die einst von den Modernen „entdeckt“ und dann entvölkert wurde. Auch der Managementvordenker Fredmund Malik verbindet mit der Neuen Welt etwas Positives und verwendet den Begriff ohne Rückblick auf die Geschichte: Für ihn entsteht sie durch die Große Transformation21, wie er den fundamentalen Umwandlungsprozess nennt.
Wir befinden uns heute in einer „Krise des Navigierens“ und des Funktionierens. Energiewende, Klimawandel und Umweltschutz werden wir nicht in den Griff bekommen, wenn wir nicht vom Meer aus denken. Dazu braucht es Steuermänner, die die Prinzipien der Nachhaltigkeit verinnerlicht haben und ihre Organisationen entsprechend ausrichten. Wenn sie versagen, versagen auch die Menschen. In seinen aktuellen Publikationen beschreibt Malik die neuen Methoden des Navigierens in einer Neuen Welt, darunter auch Denkprinzipien und Regeln des Handelns bei Ungewissheit und hoher Komplexität. Die höhere Form des Navigierens ist für ihn die Fähigkeit, sich im Unbekannten zurechtzufinden – dann, wenn die Standorte ungewiss, die Ziele beweglich und die Wege vielfältig sind.
Kopernikus leitete das Umdenken in einer Zeit ein, in der sich die Gesellschaft ebenfalls in einem tiefgreifenden Wandel befand: althergebrachte Vorstellungen wurden angezweifelt und zuweilen sogar über Bord geworfen. Seefahrer benötigen damals präzise astronomische Daten, um sich auf den Weltmeeren zu orientieren. Ein Navigieren im Umbruch verlangt auch heute überwiegend kopernikanische Fähigkeiten. Zuverlässig Orientierung zu erhalten ist zur großen gesellschaftlichen Herausforderung geworden. Wissen allein genügt jedoch nicht, Information und Daten schon gar nicht. Ohne zu verstehen, was passiert und was es bedeutet, ist richtiges Handeln unmöglich.
Vor diesem Hintergrund sollte das terrestrische Manifest gelesen werden, denn Bruno Latour unternimmt den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen und unsere politischen Leidenschaften auf neue Gegenstände auszurichten. Seine Hypothese lautet: „Man versteht nichts von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt.“ Er zeigt, dass sie in direktem Zusammenhang mit den Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten dieser Welt steht. Selbst wenn die Grenzen vor den „zweibeinigen Flüchtlingen“ dicht gemacht werden – „diese form- und staatenlosen Migranten“ (Klima, Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung) lassen sich nicht aufhalten.
Er plädiert für eine Politik, die nicht nur ökonomische Aspekte einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz. Ökologie ist für Latour ein Appell, die Richtung zu ändern: „Hin zum TERRESTRISCHEN.“ Denn in unserer gegenwärtigen Situation kommt es jetzt vor allem darauf an, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen (Erdverbundenheit) und sich dann neu zu orientieren. Auch wenn die Welt in Trümmern zu liegen scheint, so dürfen wir nicht aufhören, mit wachen Sinnen zu beobachten, wohin sie treiben, „warum einige Trümmerstücke in die Tiefe gezogen werden, andere Teile aufgrund ihrer Form dagegen als Rettungsringe dienen könnten.“
Weiterführende Informationen:
Bruno Latour: Das terrestrische Manifest. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
Fredmund Malik: Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2015.
Alexandra Hildebrandt: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.
Alexandra Hildebrandt: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.
Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Verlag Springer Gabler, Heidelberg Berlin 2017.