Professionelle Nähe - nicht nur während Corona die bessere Alternative zu professioneller Distanz
Wir leben schon lange mit den AHA-Regeln, auch in Unternehmen, in der Theorie jedenfalls. Heute vermischen sich professionelle Distanz und Social Distancing. Doch was bedeutet das?
Professionelle Distanz ist oftmals identisch mit einem Mangel an professioneller Nähe in der Führung und im Umgang miteinander. Sie ist Resultat eines kulturellen Verständnisses, dass mit Unsicherheiten, Kontrolle und Misstrauen besser zurecht kommt, als mit Transparenz, Selbstverantwortung und Vertrauen.
Social Distancing im Arbeitsalltag verlangt von uns Abhängigkeiten aufzulösen, Entscheidungen und Menschen auf neuen Wegen zu treffen, mit neuen Freiheiten sinnvoll und zielgerichtet umzugehen und psychologische Sicherheit auch mit wenig Kontakt zu transportieren. Nichts wäre schlimmer für unsere Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, als zu spüren, dass wir uns dem zusätzlichen Druck und neuen Erwartungen nicht gewachsen fühlen. In einer Zeit in der wir uns mit immer neuen Erkenntnissen über ein kleines Virus und seinen Folgen auseinandersetzen müssen, ist das Letzte, was wir brauchen können, zusätzliche Unsicherheit.
Das Virus hat uns unsere Verletzlichkeit gezeigt, nicht unbedingt auf individueller, gesundheitlicher Ebene, in jedem Fall aber auf ökonomischer, sozialer und gesellschaftlicher. Wir erleben, wie fragil unser wirtschaftliches System ist. Wir erleben, wie sehr die teils vehement vorgetragene Kritik an den Regeln die Diskussionen bestimmt und wie wichtig uns unsere sozialen Kontakte sind. Wir erkennen, wie wichtig uns unsere gesellschaftlichen Freiheiten geworden sind.
Im Arbeitsleben ordnen wir unser wahres Können, unsere Ideen und Impulse, kurz unser eigentliches Potenzial, viel zu häufig den Zielsetzungen und Wünschen des Unternehmens unter - in der Masse sehr zu dessen Leidwesen oder gar Schaden. Würden Unternehmen konsequenter die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter nutzen, würden sie Barrieren abbauen, mehr Selbstverantwortung zulassen, mehr miteinander fördern, dann ließen sich, wie viele Studien und Vorreiterunternehmen immer wieder zeigen, immense Chancen nutzen und Zugewinne erwirtschaften.
Bei diesem Tauschgeschäft erwarten viele Arbeitgeber - oft ohne sich dies bewusst zu machen - dass Mitarbeiter sich diszipliniert verhalten und den Erwartungen entsprechen, um die Vielfalt im Denken und Handeln kontrollierbar zu halten. Der Preis dafür ist, dass diese Mitarbeiter ihre eigentlichen Fähigkeiten nicht einbringen (können). Auf der anderen Seite erwarten Arbeitnehmer Sicherheit und Stabilität im Tausch gegen die von ihnen investierte Lebenszeit - und nicht unbedingt für ihre guten Ideen und Impulse. Für beide Seiten ein oftmals schlechtes und kaum mehr sicheres Geschäft. Zeit umzudenken!
Professionelle Nähe sollte Teil eines neuen organisationalen Selbstverständnisses, eines neuen organisationalen Rahmens werden, etwas, das ich als „Next Management“ umreiße. Eines Rahmens der in vielen Unternehmen dafür sorgen könnte, dass die vorhandenen Potenziale aktiver genutzt werden könnten. Doch Nähe ist schwieriger zu etablieren als Distanz. Sie muss mehr auf die Bedürfnisse und Gefühle eingehen. Sie erfordert mehr emotionale (Führungs)Kompetenz und stellt an einigen Stellen das gelebte {und leider noch immer auch in Führungstrainings) vermittelte hierarchische Führungsselbstverständnis auf den Kopf.
Wie?!
Einige wesentliche Eckpunkte: Wer Nähe aufbauen will, und das funktioniert eben auch trotz und bei social distancing, der kann und darf Verletzlichkeit zeigen. Sie ist wesentlicher Schlüssel, um eine intensivere Verbundenheit aufzubauen, die Basis für Vertrauen zu schaffen. Wer Nähe aufbauen will, muss dem Bedürfnis nach Zuversicht ernsthaft und ehrlich entsprechen. Er/sie muss nachvollziehbaren Optimismus verbreiten. Nähe bedeutet, dem anderen Eigenverantwortung in einem sinnvollen Maß zu übergeben und diese auf der anderen Seite auch anzunehmen.
Nähe ist damit immer auch ein Wechselspiel zwischen Geben und Nehmen. Es geht darum Raum zu geben, Raum zu nutzen und damit mehr Raum für gemeinsames zu schaffen.
Ein Ideal, wenn es in einer Organisation auch als solches zugelassen und wahrgenommen wird. Und eines, dass als Grundstein dienen kann, um eine neue Ebene einer deutlich verbesserten und für alle lukrativeren Zusammenarbeit zu erreichen.
Führungskräften kann ich im ersten Schritt nur empfehlen, für sich zu reflektieren, wie es um Themen wie psychologische Sicherheit, gegenseitige Verbundenheit, das Selbstvertrauen der Mitarbeiter und den Umgang mit Transparenz, Offenheit & Ehrlichkeit bestellt ist. Ebenso wichtig ist ehrliches, leistungsbewertungsunabhängiges und vor allem zeitnahes Feedback. Auch eine bewusste Wahlfreiheit und die Möglichkeit tatsächlich fokussiert zu arbeiten sind in diesem Kontext bedeutsam, um entgegengebrachte professionelle Nähe wahrzunehmen. Sie alle sind Teil eines partizipativen Gesamtverständnisses, dass bei allen Beteiligten das Gefühl einer starken Zusammengehörigkeit fördert.
Um sich nicht allein auf die eigene, in dieser Beziehung oft wenig geschulte Wahrnehmung zu verlassen - wir sehen noch immer nicht den Balken im eigenen Auge - helfen objektive Analysen. Sie sind (zumindest m)ein Mittel der Wahl, um den Fokus der Aufmerksamkeit zurück auf das zu lenken, was zählt, sowohl bei der Führung von Individuen, wie auch als Teil des Managements von Organisationen. Ein starkes Tool zur Validierung des eigenen Führungsverständnisses ist zum Beispiel der neu entwickelte „Flow Scan“ von AgilityInsights. Er ist genauso mein Favorit, wie die weiteren erprobten und in ihrer Treffgenauigkeit immer wider bestätigten Diagnostiken aus der gleichen Quelle. Natürlich kann man es auch ohne diese Hilfsmittel versuchen, aber es dauert länger und kostet wertvolle Ressourcen - ungenutzte Potenziale ihrer Mitarbeiter.
Das Virus und die AHA-Regeln erfordert von uns allen in unser Arbeitsleben mehr Nähe zuzulassen, professionelle Nähe zu Kollegen, zu Führungskräften, zu Kunden und Geschäftspartnern. Nähe damit fundamental wichtige Wahrnehmungen und Bedürfnisse erfüllt werden und wir weiterhin (mindestens) die bisherige Leistung bringen (können). An diesem Thema zu arbeiten birgt die Chance, langfristig mehr Potenzial und Weiterentwicklung zu erreichen.
Es ist die Möglichkeit für ein positives Resultat in und nach dieser so schwierigen Zeit.