Querdenker erwünscht! Warum Unternehmen mehr Wildenten brauchen
Wildenten statt Adler
Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung beginnen häufig mit der Frage: „Welches Tier möchten Sie sein?“ Die meisten Teilnehmer nennen Adler, gefolgt von Tiger, Stier, Steinbock oder Löwe. Tiere, die fliegen, gehen und schwimmen können, werden in der Regel nicht genannt. Einige Unternehmensberatungen erklären den Adler sogar zu ihrem Symbol, denn "schon immer hat der Greifvogel die Menschen in seinen Bann gezogen", heißt es in ihren Ankündigungen. Weitblick und Stärke zeigen, „Herr“ seiner Situation sein und die Vorteile der Adlerperspektive nutzen – so wird für das eigene Revier geworben. Anpacken – zupacken – greifen, heißt die Devise. Und Beute machen.
Sind Adlerexistenzen mit ihrem „Übersichtsdenken“ in Unternehmen noch zeitgemäß? Wohl kaum. Ein solches Denken hemmt die Selbstbestimmung, stutzt der Kreativität die Flügel, wenn Abnutzung, Ermüdung und Resignation das Fliegen schwer machen. Es führt zu Durchschnitt und Standardisierungen in der Arbeitswelt und bringt keine Spitzenleistungen hervor. Die zentrale Bedeutung der Wildenten für Wirtschaft und Gesellschaft zeigt sich am Beispiel von Jay Elliott: Als ehemaliger Senior Vice President von Apple war er zuständig für Unternehmensplanung und –führung und berichtete direkt an Steve Jobs, der ihn von IBM zu Apple holte. Bei IBM war er wegen seiner aus der Reihe tanzenden Ideen und Meinungen als „Wildente“ bezeichnet worden und fiel wegen seiner Eigensinnigkeit (Selberdenken) aus dem Raster vorgegebener Managementstrukturen.
„Wild Duck“ heißt auch ein Buch von Gunter Dueck, der nach einer Karriere als Mathematikprofessor 1987 zur IBM wechselte, wo er u.a. für den Aufbau neuer Geschäftsfelder (Business Intelligence, Cloud Computing) und für Cultural Change tätig war. Drei Jahre trug er den zeitlich befristeten Titel „Master Inventor der IBM“. Zuletzt, bei seinem Wechsel in den „Unruhestand“, war er CTO (Chief Technology Officer) der IBM Deutschland und IBM Distinguished Engineer. Der Buchtitel bedeutet im Deutschen gar nicht wilde Ente, sondern Querdenker. Als solcher hat er sich in den Diensten von IBM Deutschland gesehen. Der Autor vieler Bestseller, darunter „Professionelle Intelligenz“, „Das Neue und seine Feinde“, „Schwarmdumm“ und „Flachsinn“, bewegt sich nicht nur innerhalb der Wissenschaftsszene, sondern verknüpft Themen wie Bildung, Zukunft und Digitalisierung auch mit philosophischen Fragestellungen. Sein erster Berufswunsch war Dichter, leider erhielt er im Fach Deutsch nur schlechte Noten – vielleicht, weil er sich beim Schreiben nie an die gewünschten literarischen Formen hielt. Eine Eins erhielt er nur einmal: „Bei der Aufgabe, eine Satire zu verfassen. Mit seinen Publikationen knüpft Dueck an dieses Erfolgserlebnis an.“ https://t3n.de/magazin/gunter-dueck-wilde-ente-ibm-227930/2/ Seit 2011 ist er freischaffend als Schriftsteller, Business-Angel und Speaker tätig.
Alle Kreativen und Erfolgreichen haben etwas von Wild Duck - und ein voll gelebtes Leben, denn sie brauchen alle Daseinsformen, um sich und ihre Ideen zur Entfaltung zu bringen. Anfänger- und Künstlergeist sowie leidenschaft und Detailverliebtheit gehören für sie genauso zusammen wie das Talent, ungeordnetes Wissen erst einmal aufzunehmen im Bewusstsein, dass es später einmal eine wichtige Rolle spielen wird. Für Wildenten kommt es darauf an, das eigene Talent auszuschöpfen und etwas Großartiges zu leisten, Produkte und Dienstleistungen besser zu machen. Geld motiviert sie nicht. Es ist nur das, was folgt.
Das Stärkste, was sie in Momenten ihrer Besessenheit und Leidenschaft empfinden, ist unbeschreibliches Glück. In ihrem Tun geben sie ihr Bestes und haben dabei das Gefühl, sich außerhalb der Zeit zu befinden. Es ist ein Gefühl tiefer Befriedigung und völliger Konzentration, das alles andere um sie herum vergessen lässt. In diesem Motivationszustand intensiver Ausprägung, den der Chicagoer Sozialpsychologe und Glücksforscher Mihaly Csikzentmihalyi heute als charakteristisch für „Flow"-Erlebnisse bezeichnet, scheint alles mühelos von der Hand zu gehen.
Für Wild Duck-Menschen ist nicht das Eine besser als das Andere – vielmehr kann es nebeneinander existieren. Sie geben sich ihrer Berufung mit Haut und Haaren hin, rütteln auf und stellen infrage. Dazu braucht es allerdings „ein solides Fundament aus Eigensinn“ (Wolf Lotter) und eine Umgebung, die dafür sorgt, dass das Talent der Wildenten nicht austrocknet, denn es ist wie ein Schwamm, der sich – selbst wenn er ausgedrückt wird - ständig neu füllt. Für Adler mag das uninteressant sein, denn ein Schwamm ist keine attraktive Beute.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt: Das Leben als Aufgabe. Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Berlin und Heidelberg 2020.
Wolf Lotter: Schwerpunkt: Eigensinn. In. brand eins 1( 2020), S. 31-38.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018