© Thomas Knüwer

re:publica 2022: von der Bloggerkonferenz zum Gesellschaftsfestival

Freitagabend, letzter re:publica Tag, irgendwas so um die 23 Uhr.

Eigentlich würde man jetzt aus den Lautsprechern gern „Alle vier Minuten“ von Element of Crime hören, den sommerberlinigsten Song in der Geschichte der sommerberlinigen Musik, doch den kennt ja kaum jemand, und die Band selbst findet das zugehörige Album „Romantik“ laut ihres eigenen Podcast „Narzissen und Kakteen“ eher so meh, weshalb Sven Regner in diesem Moment nicht singt:

**Lass uns nochmal um die Häuser zieh’n /****Schonungslos und ohne Hintersinn /****Willenlos und immer mittendrin /**An den letzten warmen Tagen in Berlin …

Foto Thomas Knüwer
Foto Thomas Knüwer

Aber vielleicht ist das ja auch gut so, dass der Song da nicht läuft, ist das Oberthema der Konferenz doch der Schlusssatz aus „Bohemian Rapsody“, also „Any way the wind blows“, und es sind ja auch gar nicht die letzten warmen Tage, sondern einer, je nach Wetteroptimismus, der ersten warmen Abende – und im gleichen Song heißt es ja auch:

**Und ohne Klarheit in der Sprache /**Ist der Mensch nur ein Gartenzwerg.

Es ist also warm, und es ist der letzte rp22-Abend. Wir sitzen in kleiner Gruppe beim Wir-haben-nicht-mitgezählten-Bier an jenem Spree-Strandstück, das die Atmosphäre in den Tagen zuvor so besonders machte.

„Ich setz mir hier jetzt mal dazu.“

Eine Frau, Ende 20 vielleicht, tut wie angekündigt und wird unwissentlich den symbolischen Moment dieser ersten Pandemie-Auslauf-re:publica liefern.

Wir stellen uns vor – sie stellt sich vor. Sie kommt aus Bad Pyrmont, ist Ärztin und hat mit all dem, was die re:publica ist, wenig zu tun. Ihr Bruder aber, der komme immer. Und er habe geschwärmt. Als nun klar war, dass die re:publica nach zwei Jahren Digitalität wieder physisch stattfinde, habe sie sich das mal anschauen wollen. Dies sei ihr Urlaub und werde ab jetzt immer ein Urlaub sein. Inspiriert und begeistert sei sie, von den Themen, den Menschen, der Umgebung. #rp23 ist in ihrem Kopf schon gebucht.

Das Gründerteam der re:publica bei der Schlussveranstaltung - Foto: Thomas Knüwer
Das Gründerteam der re:publica bei der Schlussveranstaltung - Foto: Thomas Knüwer

Nicht nur dem rp-Team war eine Unsicherheit anzumerken ob der ersten richtigen Konferenz nach dieser Pause. Doch wer Tanja, Johnny, Andreas und Markus am Ende der drei, besser: vier, Tage begegnete, erlebte eine Ausstrahlung von Glück wie schon sehr lange nicht mehr.

Denn die rp22 wirkte wie ein Rücksturz in die Anfangstage – nur eben in einer größeren Version. Seit den seligen Kalkscheunen-Tagen habe ich nicht mehr so viele Menschen neu kennengelernt, und Ähnliches berichteten viele TeilnehmerInnen. Es gab eine euphorische Lust auf Kontakte, wie eben auch bei jener Bad Pymronterin. Zum ersten Mal muss ich nach einer re:publica die überreichten Visitenkarten auswerten. Verrückt.

Natürlich half die neue Location Arena Berlin. Ihr Außenbereich war fast satirisch überzeichnet re:publica-typisch. Strand. Liegestühle. Strandkörbe. Sonnendecks. Ein Schiff. Ein Schwimmbad. Ein verdammtes SCHWIMMBAD.

Seien wir ehrlich: Hätte es geregnet, wäre die rp22 ein Desaster gewesen. So aber war sie ein fiebriger Geek-Traum an den ersten warmen Abenden in Berlin.

Auch für unser Team von Völlerei & Leberschmerz. Wir durften auf der traumschönen Open-Air-Bühne mit Experten über Blähungen, Fürze, Hülsenfrüchte und individuelle Ernährung sprechen. Es war herrlich voll, die ZuschauerInnen machten jeden Mist mit – danke fürs Kommen und Zuhören. Wer es verpasst hat: Demnächst gibt es die Aufzeichnung in unserem Podcast-Feed.

Völlerei & Leberschmerz live on stage - Foto: Stefan Munko
Völlerei & Leberschmerz live on stage - Foto: Stefan Munko

Die zwei Jahre reine Digitalität haben das Team auch nicht seines Willens beraubt, die Wünsche der BesucherInnen zu antizipieren. Die re:publica bleibt die ästhetischste Konferenz, die ich kenne, gespickt mit kleinen Details, die den Aufenthalt leichter und/oder schöner machen.

Und: nachhaltiger. Fast schon manisch – aber natürlich absolut richtig – versucht die rp zu zeigen, wie physische Konferenzen ressourcenschonender werden können: Lanyards sollten mitgebracht werden, genauso Köpfhörer für jene Bühnen, bei denen dies nötig war, auch eine CO2-Bilanz soll es noch geben. Dazu gehört auch rein vegetarisches, beziehungsweise veganes Essen. Das soll es auch in lecker geben, habe ich gehört. Vielleicht versucht man es 2023 mal in dieser Variante.

Übrigens: Während viele Konferenzen ihre Podien überwiegend mit Männern füllen, kommt die re:publica auf eine Speakerinnen-Quote von 54,9% – bermerkenswert.

v.l.: Friederike Otto, Leitautorin des IPCC-Berichts, Wolfgang Blau (Reuters Institute), Moderator Nilz Bokelberg - © Thomas Knüwer
v.l.: Friederike Otto, Leitautorin des IPCC-Berichts, Wolfgang Blau (Reuters Institute), Moderator Nilz Bokelberg - © Thomas Knüwer

Allen hätte es genügt, wäre die Konferenz, für die der Begriff „Festival“ dann doch immer besser passt, einfach zurückgekehrt. Doch gleichzeitig hat sie sich weiterentwickelt, ist breiter geworden.

Gerade auf der großen Stage 1 hatte das Team den Mut zur batikshirtigen Vielfarbigkeit: Ernste Talks der großen Namen wurden gefolgt von den aufsteigenden Zauberstars Siegfried & Joy, dem Interview mit einem Krankenpfleger, einer Lesung oder einem DJ-Set.

Immer weiter entfernt sich die re:publica vom Digitalfokus, wird von der Konferenz für die digitale Gesellschaft zum Debattenort der Gesellschaft insgesamt.

Das scheint das Team auch erkannt zu haben. Mit zu wenig Vorlauf für etliche, die gern gekommen wären, wurde eine neue Subkonferenz am Tag nach der rp22 angekündigt: Die txt soll sich um das geschriebene Wort kümmern.

Noch ist sie ein kleines Pflänzchen, was sie dafür besonders entspannt machte. Doch das Potenzial ist da, etliche Altsack-BloggerInnen, zu denen ich mich auch zähle, würden bei einer Wiederholung gern die txt entern.

Luisa Neubauer auf der re:publica - © Thomas  Knüwer
Luisa Neubauer auf der re:publica - © Thomas Knüwer

Schon diesmal gab es wirklich gute Themen, am Speaker-Briefing sollte die txt aber schrauben und das mit dem geschriebenen Wort ernster nehmen – diesmal gab es zu viele Sessions zu Audio- und Video-Formaten. Zu vieles blieb auch oberflächlich, ich wünsche mir mehr Werkstatt-Einblicke in das Schreiben.

Eines aber fehlte an diesen nun vier Tagen in Berlin: Jenes ätzende, teils wütende Abarbeiten der klassischen Medienmarken an der re:publica. So vorhersehbar und holzschnittartig war die Kritik von Blättern wie der „FAZ“ oder „Süddeutscher“, dass ich Handreichungen für JournalistInnen bloggte, die jene Berichterstattung vorgwegnahm.

Klein, aber vielversprechend: die txt - Foto: Thomas Knüwer
Klein, aber vielversprechend: die txt - Foto: Thomas Knüwer

Davon bleibt nicht mehr viel. Sicherlich auch, weil gleich fünf Mitglieder des aktuellen Bundeskabinetts auf der Bühne aufliefen – darunter der Kanzler. Weil Luisa Neubauer spricht, genauso Klimaforscherin Friederike Otto, die Leitautorin des IPCC-Berichts. Angesichts einer solcher SpeakerInnen-Liste fällt es schwer, von „asexullen Nerds“, „zotteligen Bloggern“ oder einer ominösen „Netzgemeinde“ zu giften, die lieber „unter sich bleibt“.

Denn Unter-sich-Bleiben – darauf schien kaum jemand Lust zu haben. Endlich wieder Menschen, endlich wieder Inspiration – endlich wieder re:publica. Die Pandemie wurde nicht für beendet erklärt (zum Beispiel wurde das traditionelle Finalsingen der „Bohemian Raphsody“ mit einer Maskenquote von 100% absolviert).

Aber für die 21.000 Besucher war die rp22 ein viertägiges Aufatmen an den ersten warmen Tagen in Berlin.

Thomas Knüwer schreibt über Marketing & Werbung, Wirtschaft & Management, Konsumgüter & Handel, Tourismus

Gründer der Digitalberatung kpunktnull Marketing- & Medien-Blogger auf Indiskretion Ehrensache Food-Podcaster bei Völlerei & Leberschmerz Mitgründer und -ausrichter des Influencer-Preises Die Goldenen Blogger Ex-Handelsblatt-Journalist und Gründungschefredakteur der deutschen Wired

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