#redenhilft – Interview mit Julia Hisserich von "Redezeit für dich"
Besonders das vergangene Jahr hat gezeigt, wie schnell neue Herausforderungen in unser Leben treten und zur Beanspruchung werden können: Homeschooling, Isolation, Existenzängste sind nur ein paar Beispiele dafür. Persönliche Herausforderungen oder Veränderungssituationen im Job können mental belasten. Wir bei BAD unterstützen und begleiten unsere Kunden und deren Mitarbeitende bereits seit vielen Jahren mit unseren Leistungen aus dem Employee Assistance Program (EAP). Gerade im vergangenen Jahr konnten wir sehen, wie sehr die Nachfrage angestiegen ist, und haben die Rückmeldung erhalten, als wie sinnhaft diese Dienstleistung empfunden wird.
Da unsere Angebote im EAP nicht allen zur Verfügung stehen, möchte ich die Initiative "Redezeit für dich" vorstellen und unterstützen. Hierzu konnte ich Julia Hisserich interviewen.
Hallo Julia, du bist ein Teil des Teams von "Redezeit für dich", einer ehrenamtlichen Initiative, die sich im März 2020 gegründet hat. Was genau ist die Idee dahinter?
Julia Hisserich: "Redezeit für dich" (#virtualsupporttalks) ist eine Plattform aus über 300 im Zuhören geschulten Coaches, Therapeut*innen und Psycholog*innen, die anderen Menschen ehrenamtlich ihr Ohr schenken und zuhören. Und das kostenlos und ohne Verpflichtung. Wir wollen mit unserer Arbeit, in schwierigen Zeiten ein Signal der Hoffnung und Unterstützung senden. Ich kümmere mich um den Bereich Partner und Kooperationen und freue mich, dass ich unsere Initiative hier vorstellen darf.
Unsere Initiative ist gemeinnützige, gesellschaftsorientiert und für jede*n kostenlos. Sie verfolgt weder wirtschaftliche noch politische oder religiöse Ziele. Alle Zuhörer*innen bei "Redezeit" hören unabhängig von vorgebrachtem Thema, Herkunft, Hintergrund, Identität, Sexualität, Religion oder politischen Ansichten zu. Wir von "Redezeit" glauben, dass es wichtig ist, dass Menschen ihre eigenen psychischen Belastungen und Grenzen besser wahrnehmen und auch mit anderen in ihrem Umfeld offener darüber sprechen können sollten. Außerdem sind uns gesellschaftliche Werte wie Zuhören und Engagement überaus wichtig.
Ich möchte aber betonen: Unser Angebot ist kein Ersatz für ein professionelles Coaching oder eine Therapie. Unsere Hilfe ist eher gedacht als kurzfristige Unterstützung für Menschen in Not, die unbedingt und schnell mit jemandem reden wollen.
Aus welcher Motivation heraus habt ihr "Redezeit für dich" gegründet?
Im Frühjahr 2020 reist Corona um die Welt, und plötzlich steht alles Kopf, es entstehen neue, zum Teil nie gekannte Belastungssituationen, die viele Menschen wirklich emotional und psychisch herausgefordert haben. Damals haben sich vier Coaches aus Hamburg via Videokonferenz zusammengeschaltet und überlegt, was das alles wohl für die Zukunft bedeutet. Für sie stand fest: Viele Menschen werden aufgrund der neuen Situationen viel Redebedarf haben. Damit war die Idee geboren, allen, die reden möchten, Zeit zum Zuhören zu schenken: mindestens 15 bis 30 Minuten Redezeit. Umsonst und ohne Verpflichtungen. Damit alle, die etwas auf dem Herzen haben, das auch loswerden können.
Und an wen richtet ihr euch genau mit dem Angebot?
"Redezeit" richtet sich an alle, die jemanden zum Reden brauchen – ob berufstätig, im Homeoffice, Familien, Alleinerziehende, Lehrer und Schüler, Paare, Führungskräfte, aber auch alte Menschen.
Was glaubst du hilft den Anrufer*innen in diesem 30-Minuten-Gespräch am meisten?
Die Menschen mit Redebedarf fühlen sich aufgefangen, verstanden und entwickeln neue Perspektiven – schon allein durch die Erzählung der eigenen Sichtweise für eine völlig außenstehende Person. Das nimmt oft großen Druck, dringend eine Lösung zu finden. Zusätzlich kann das Gespräch mit einem ausgebildeten Zuhörenden, der mit professioneller Distanz auf die Situation und das aktuelle Problem schaut, besser helfen, als mit Freunden und Familie zu sprechen. Durch aktives Zuhören und Fragenstellen können so wichtige (erste) Impulse für den weiteren Weg in der Krise oder aktuellen herausfordernden Situation gesetzt werden.
Wer ist bei "Redezeit für dich" engagiert, und wie viele seid ihr eigentlich?
In diesem Projekt sind derzeit 348 ehrenamtliche Helfer organisiert, davon 345 Coaches, Therapeuten und Psychologen aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie drei Initiatoren. Unser Kern-Orga-Team besteht aktuell aus neun Coaches. Wir freuen uns übrigens immer über neue Menschen, die sich bei uns einbringen wollen, sei es als Zuhörende*r oder als Planende*r.
Warum wird es "Redezeit" auch nach Corona brauchen?
Corona hat in vielen Bereichen wie eine Art Brennglas für gesellschaftliche Probleme, aber auch für persönliche Herausforderungen, zum Teil individuelle emotionale "Schieflagen" gewirkt. In Zeiten des Lockdowns sind viele Dinge, mit denen wir sonst unseren Alltag verbracht oder eben vorhandene Probleme "überdeckt" haben, plötzlich weggefallen: Shoppen, Freunde treffen, Kino, Kultur, Weggehen usw. Die alten bekannten Mechanismen griffen nicht mehr, und teilweise tun sie es auch jetzt nicht mehr. Das macht viel mit einem und hat manche Menschen plötzlich mit psychischen Belastungen konfrontiert. Und hier wollen wir Unterstützung bieten.
Gleichzeitig haben Corona und die damit verbundenen massiven sozialen Einschränkungen bei vielen emotionale Spuren hinterlassen. Ich glaube, dass wir noch längere Zeit, auch wenn immer mehr Normalität einkehrt, mit einem "emotionalen Hangover" zu tun haben werden, die Erlebnisse verarbeiten müssen. Hier wollen wir mit "Redezeit für dich" eine feste Anlaufstelle für Unterstützung sein. Und natürlich ist es uns wichtig, mit unserer Arbeit weiterhin zur Enttabuisierung von psychischen Problemen beizutragen. Unsere Mission heißt ganz klar #redenhilft, auch als gesellschaftlicher Auftrag im Bereich mentale Gesundheit.
Liebe Julia, vielen Dank für die spannenden Einblicke in eine wirklich wichtige Arbeit! Ich wünsche dem Projekt noch ganz viel Erfolg!