Dr. Alexandra Hildebrandt

Reise durch ein untergegangenes Land

Das Wendemuseum in Culver City bei Los Angeles, benannt nach dem historischen Zeitraum um den Mauerfall 1989, beherbergt in einer ehemaligen Waffenkammer der Nationalgarde aus dem Jahr 1949 eine der weltweit umfangreichsten Sammlungen mit Artefakten aus der DDR - von Stasi-Spionagewerkzeugen und Schildern vom Checkpoint Charlie über eine Ansammlung an ostdeutschen Haushaltsprodukten und Designobjekten. Ziel ist es, alle schönen und schrecklichen Details dieser verschwundenen Welt möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Zu finden sind hier etwa 100.000 Artefakte aus der DDR, darunter Speisekarten, Mitropa-Geschirr, Filmplakate, Zigarettensorten, Bilder, Poster, Fotoalben, Familienalben, Plattenhüllen, Möbel, Spielzeug, Kunst und Design.

Die hier gesammelten Dinge stammen häufig aus Situationen, in denen sie nur noch als Müll angesehen wurden: 1990 entsorgten die DDR-Bewohner 19 Millionen Tonnen Müll (1,2 Tonnen pro Person). Das war dreimal so viel wie die bundesdeutsche Pro-Kopf-Rate in diesem Zeitraum. „Eine ganze Kultur verschwindet, weil sie noch nicht als historisch, sondern nur als alt angesehen wird", sagt der Historiker Dr. Justinian Jampol, dessen Arbeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der Visual Cultural Studies und dem Zusammenhang zwischen zeitgenössischer Kunst und der Ikonografie des Kalten Krieges liegt. Als die Mauer fiel, war der US-Amerikaner elf Jahre alt.

Seit dem Jahr 2000 sammelt er Designobjekte, Artefakte und Alltagsgegenstände aus der DDR (1949 bis 1989). 2002 gründete er das Wendemuseum. Damals studierte er noch an der Oxford-Universität und machte seinen Master im Fach Russian and East European Studies. Während eines Semesters in Berlin fand er im offiziellen Bundesarchiv nicht das passende Quellenmaterial, das er zur Beantwortung seiner Fragen in Bezug auf den Alltag in der ehemaligen DDR benötigte. Er beobachtete, dass einzelne Bruchstücke der Geschichte regelrecht ausradiert wurden. „Die materielle Kultur der DDR und die Art und Weise, wie diese ,Dinge‘ seit 1989 gesammelt, verramscht, ignoriert, weggeworfen, ausgestellt und verlacht werden, zeigen, inwieweit die Geschichte der DDR immer noch die Gemüter entzweit und keinen Konsens gefunden hat.“

Um herauszufinden, was kulturell relevant ist, musste er zunächst herausfinden, wo sich die faszinierendsten DDR-Relikte befinden. Er durchsuchte Keller, Dachböden, Flohmärkte und Atomschutzbunker und fand hier „Dinge, die die Leute traumatisierten, die sie liebten und wegwarfen." Mit dem Akt des Zusammenstellens soll ein Nachdenken herausgefordert und angeregt werden, das auf unser gegenwärtiges Sein zurückwirkt. Nach Erweiterung und Umbau präsentiert das Wendemuseum seit November 2017 seine Sammlung auf erweiterter, großzügiger Fläche im historischen Armory Building von Culver City, einem ehemaligen Zeughaus der US National Guard aus der McCarthy-Ära, das von Michael Boyd, Christian Kienapfel und Benedikt Taschen für das Museum umgestaltet wurde. Das Gebäude beherbergt die Sammlung 75 Jahre - erworben wurde es für einen Dollar. Allerdings musste es das Geld für die Renovierung selbst aufgebracht werden. Der Verleger Benedikt Taschen gehört zu den finanziellen Unterstützern.

Das DDR-Handbuch zeigt einen Ausschnitt aus der Sammlung des Museums. Die Texte stammen von Akademikern und Experten aus Europa, Kanada und den USA. Sie sind in Deutsch und Englisch geschrieben. Der Vorgänger des Buches erschien 2014 unter dem Titel „Beyond the Wall – Jenseits der Mauer“. Präsentiert werden in der kleineren und handlicheren Ausgabe über 2.000 Alltagsgegenstände und Designobjekte, Archivbestände, Stasi- und Volkspolizeirelikte, Propaganda, Skurriles, Witziges, Tragisches, Spektakuläres, Massenproduziertes und Handgemachtes.

„Die Überreste einer vergangenen Welt werden eine Quelle für neue Erkenntnis, die uns alle zu einem höheren Bewusstseinsniveau führt. Wir müssen auch weiterhin Ideen erforschen, diskutieren und verfolgen, die sich aus Gegenständen mitteilen statt aus physischen Strukturen.“ (David Thomson, 3. Baron Thomoson of Fleet, Vorsitzender von Thomson Reuters)

Ein Witz kursierte in den letzten Tagen der DDR: „Der Dämliche Rest“. Wer erzählte ihn? „Die, die da bleiben oder die, die abhauen?“ Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Aber es gibt ein Buch, das diese Frage aufnimmt und mit einem Stoff verbindet, der ein offenes Lesen der deutschen Geschichte verlangt: „Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Koloriert von Dominique André Kahane.“ Der Wende-Comic von Alexander Lahl und Max Mönch wurde von der Künstlerin Kitty Kahane illustriert, die durch die Illustration von Kinderbüchern bekannt wurde. Es ist nach ihrer Graphic Novel "17. Juni – Die Geschichte von Adam und Eva" die zweite Erzählung der drei Ost-Berliner, die Untergang und Mauerfall miterlebt haben. Ins Buch ist deshalb auch viel Biografisches eingeflossen.

Max Mönch, geboren 1978, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2006 ist er Autor und Regisseur. Alexander Lahl, Jahrgang 1979, studierte Kulturwissenschaften in Berlin, Breslau und Frankfurt (Oder). Er lebt als Autor und Filmemacher in Berlin und ist Mitgründer der Kulturingenieure. Derzeit arbeitet er an einer ARTE-Dokumentation über die Weltmeere. Die „Buchmacher“ sind auch ausgewiesene Historiker, die Interesse am anderen, tieferen Blick haben. Sie sind sich bewusst, dass Geschichte keine Abbildung der Vergangenheit ist, „sondern eben nur eine Darstellung“. Zwischen ihre Textzeilen passen viele Wimpernschläge – kein Wunder: „Verschleierte Sprache im Sozialismus, bietet unendlich viele Verstecke; überall lauern Doppeldeutigkeiten, Anspielungen“, heißt es in der aktuellen Publikation zum 25. Jahrestag der Wende.

Das Buch ist auch ein Beispiel dafür, dass Historie erst dann nicht mehr weh tut, wenn sie überzeichnet ist. Doch ganz ohne Schmerz ist auch der aktuelle „Treibsand“ nicht zu haben: Der Auslandskorrespondent Tom Sandman reist im Spätsommer 1989 von New York nach Berlin, um die Geschichten der Wendezeit im besten Sinne des Wortes aufzulesen. "Der Staat ist auf Treibsand gebaut, Treibsand, der in Bewegung geraten ist", schreibt er in einem seiner Artikel. Das Bedeutendste aber verpasst er. In der Nacht vom 9. auf den 10. November lag er mit einer eitrigen Kieferentzündung im OP der Charité, während Tausende Ost-Berliner die Grenzen stürmten.

Die Weltgeschichte hatte er im Mund: „Als hätte der Schöpfer mein Gebiss mit kleinen Sprengsätzen versehen, die immer dann hochgingen, wenn es in meiner Nähe politisch unruhig wurde.“ Seine Zahnschmerzen wurden für ihn zum inneren Zeichen. Äußerlich stehen die Zähne für Potenz (lat. mächtig, kräftig, wirksam), in der Psychoanalyse für Impotenz, wenn sie im Traum ausfallen. Und in gewisser Weise war die DDR, der „schnarchende“ Staat, am Ende ja auch impotent, denn die Macht bröckelte. „Die politische Struktur ist starr und deshalb zerbrechlich“, heißt es im Buch.

Sandman ist eine wundersame, tragikomische Figur. Angetrieben von seinem antikommunistischen Chef, stolpert er wie ein moderner Schlemihl durch die Weltgeschichte und begegnet dabei einer geheimnisvollen Frau: Ingrid versuchte als Profischwimmerin über die Ostsee zu fliehen, wurde gefasst, eingesperrt und nach zwei Jahren vom Westen freigekauft. Ihr Vater war Funktionär und ihr Bruder Grenzsoldat. Die Karrieren der beiden endeten durch ihren Fluchtversuch. Ingrid wird am Ende MIT der Wahrheit schwerer leben als OHNE sie.

Weiterführende Literatur:

Justinian Jampol/Wendemuseum (Hg.): Das DDR-Handbuch. Kunst und Alltagsgegenstände aus der DDR. Taschen Verlag, Köln 2017.

Max Mönch, Alexander Lahl und Kitty Kahane: Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Koloriert von Dominique André Kahane. Berlin 2014 (Metropolit Verlag).

Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Von Lebensdingen. Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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