Richtig entscheiden: Warum Erfahrungswissen unverzichtbar ist
Bauchgefühl– oder auch der gesunde Menschenverstand–ist Anwendungsverstand. Führungskräfte, die darauf vertrauen, unterscheiden sich von anderen. Und sie sind niemals mittelmäßig!
Damit wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen können, muss auch etwas im Bauch drin sein – und zwar Vorwissen und Erfahrungen.Henning Beck, Neurobiologe
Wer innerlich Klarheit hat, ist auch empfänglich für seine innere Stimme und lässt sich von ihr leiten. Als Bauchgefühl stellt sie eine Orientierung in einer gemeinsamen Welt dar und unterstützt uns darin, den Instinkt dafür nicht zu verlieren, was richtig ist. Steve Jobs gab in einem Doktorandenseminar an der Stanford University, nachdem bei ihm Leberkrebs diagnostiziert worden war, folgenden Rat: „Lassen Sie nicht zu, dass Ihre innere Stimme in den Stimmen anderer untergeht. Und was am wichtigsten ist: Haben Sie den Mut, Ihrem Herzen und Ihrer Intuition zu folgen." Er setzte nicht auf systematische Analyse, sondern nur auf das Bauchgefühl: „Man muss auf etwas vertrauen - auf seinen Bauch, das Schicksal, das Leben, Karma oder was auch immer. Dieser Ansatz hat mich nie im Stich gelassen und alles, was in meinem Leben wichtig war, bewirkt."
Der innere Kompass
Auch Katharina Pavlustyk, die beim Online-Weiterbildungsanbieter karriere tutor für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, verwendet den Begriff „innere Stimme“, weil sich das für sie am stimmigsten anfühlt: „Wenn ich vollkommen in der Ruhe und bei mir bin, kann ich diese innere Stimme wahrnehmen, die die Wahrheit kennt, die weiß, was gut für mich ist und alle Antworten auf Fragen, die mein Verstand oft nicht beantworten kann.“ Wenn wir uns allerdings ständig ablenken und nur erledigen und machen und tun, können wir diese Stimme nicht hören.“ Eine empfehlenswerte Lektüre ist für sie in diesem Kontext „Muße – Vom Glück des Nichtstuns“ von Ulrich Schnabel, der viele Beispiele und Studien anführt, „weshalb wir uns öfter einfach nur hinsetzen und nach draußen schauen sollten (oder meditieren oder ein Nickerchen machen).“ So entsteht Kreativität nicht auf Knopfdruck und nicht unter Stress, sondern erst, wenn wir entspannt sind und uns selbst Raum geben. Deshalb kommen uns die besten Ideen unter der Dusche oder beim Spaziergehen. „Viele Menschen wissen gar nicht um ihre Intuition und innere Stimme, sie sind gefangen in einem Hamsterrad aus Aufgaben, die sie glauben erledigen zu müssen. Aber irgendwann bricht das über einem zusammen. Wenn man sich keine Pausen gönnt, keine Stunden der Muße, holt sich der Körper irgendwann Erholung, und sei es, dass man gezwungen ist, sich hinzulegen und nichts zu tun, weil man krank geworden ist.“
In ihrem Buch „Liebe deine Arbeit“ stellt Katharina Pavlustyk die Kommunikationsexpertin Ursula Maria Lang vor, die auch Mitinitiatorin und Leiterin des Fachbereichs Berufung der St.-Leonhards-Akademie ist. Lang bestätigt, dass jeder so etwas wie eine innere Stimme hat, „einen Kompass“. Die Berufungsberaterin hilft anderen Menschen, dieser Stimme zu folgen – mit einer speziellen und zertifizierten Methode, die zu einem konkreten Berufsplan führt. Sie selbst lebte ihre Berufung schon sehr früh: „Als Jugendliche, als ich mir zum ersten Mal Gedanken über den Sinn des Lebens machte, wusste ich, dass ich irgendetwas Sinnvolles für die Welt tun möchte.“ Wenn sie zu jener Zeit von Menschen las, die sich für die Umwelt oder für andere Menschen engagierten, bekam sie Gänsehaut. „Als junges Mädchen habe ich die Reise-, Umwelt- und Sozial-Reportagen von Gerd Ruge und Lois Fisher-Ruge sowie das GEO-Magazin gelesen. Da hatte ich immer so eine Art Déjà-vu-Erlebnis, als habe das etwas mit meinem Lebensweg zu tun“, erinnert sie sich.
Viel früher sollten wir uns selbst fragen, was wir eigentlich wollen, was wir bewirken möchten auf dieser Erde – am besten noch bevor wir ein Studium oder eine Ausbildung beginnen. Sie ist davon überzeugt, dass jeder einen „inneren Ruf“ hat, etwas in diesem Leben zu geben, etwas zu bewegen. Es braucht heute beides gleichzeitig: die innere Stimme und einen flexiblen äußeren Rahmen, in dem sie gehört wird.
Nach seinem Karriereende als Boxer sagte Wladimir Klitschko, dass er immer auf seinen Bauch gehört hat. Aber warum gehört für den Managementvordenker Fredmund Malik „Bauchgefühl“ zu den „gefährlichen Managementwörtern“, die richtiges Verstehen und vernünftige Kommunikation erschweren, und die Ursache von „fehlgeleiteten Erwartungen und falschem Verhalten von Menschen in Organisationen“ sind? Die Antwort ist simpel: Weil das Wort häufig genauso schlampig und unreflektiert verwendet wird wie „Management“ oder „Leadership“. Es muss im entsprechenden Kontext betrachtet werden: Erfahrung ist heute eine der wichtigsten Ressourcen: „Erfahrene Führungskräfte können komplexe Sachverhalte schneller erfassen und geistig durchdringen als unerfahrene.“ Sie haben einen oft großen Vorrat an Erfahrungswissen, auf dem sie aufbauen können.
Die Bedeutung des Erfahrungswissens hebt auch Katharina Pavlustyk hervor, die beim Online-Weiterbildungsanbieter karriere tutor für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. „Denn mit jedem Jahr beruflicher Praxis werden wir - im besten Fall - besser. Aber ebenso wichtig ist es, sich selbst und sein tägliches Tun immer wieder zu hinterfragen, auf die eigene Intuition zu vertrauen, der inneren Stimme zu folgen, die einem genau sagt, ob die berufliche Position noch passt oder nicht. Ob die Aufgaben, die man von Montag bis Freitag erledigt, einen herausfordern und interessieren oder eben nicht. Wir investieren viel Zeit in unsere Karriere – und um langfristig beruflich glücklich zu sein, sollten wir dabei nicht alle halbe Stunde auf die Uhr schauen ... Das gilt für einen Berufseinsteiger ebenso wie für einen erfahrenen Mitarbeiter.“
Der inneren Stimme (Intuition) gibt Fredmund Malik eine andere Position im Entscheidungsprozess - als Prüfstein des Denkens: Intuition soll nicht am Anfang eines Entscheidungsprozesses stehen, sondern an dessen Ende. In der Wirtschaftswelt hat Intuition schon lange einen festen Platz. Jack Welch, ehemaliger CEO von General Electric, sagte einmal, dass gute Entscheidungen aus dem Bauch getroffen werden. Eine Studie der Economist Intelligence Unit aus dem Jahr 2014 ergab, dass Intuition für Vorstände der wichtigste Ratgeber ist. Frank Thelen, Gründer und Investor, sagte in einem brand eins-Interview, dass er seinen Job seit zwanzig Jahren macht und deshalb auf einem soliden Gerüst aufbauen kann: „Und man hat eine Nase, um den Mist zu riechen, und einen Bauch, um zu fühlen, ob es passt.“ Er steigt mit Intuition in Projekte ein und steigt mit Intuition wieder aus.
Bauchentscheidungen sind auch ein Forschungsgegenstand des Psychologen Gerd Gigerenzer, der feststellte, dass es Managern häufig schwerfällt, vor anderen Menschen zuzugeben, dass sie ein Bauchgefühl haben. Denn wer sich mit seiner Offenheit einmal die Finger verbrannt hat, ist später sehr zurückhaltend. Er bestätigt, dass gerade bei komplexen Sachverhalten unsere Bauchentscheidungen deutlich besser als rationale Entscheidungen sind. Sie lassen sich trainieren, indem damit begonnen wird, mehr auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu achten.
Erfahrungen sind auch zum wichtigsten Wegweiser von Wladimir Klitschko geworden: Sie zeigen ihm, welche Entscheidungen er möglicherweise noch einmal hinterfragen muss, um seinen Pfad aus Überzeugung gehen zu können - damit er nachhaltig hinter seinen Entscheidungen stehen kann. Angst war für ihn immer ein besserer Motivator als Freude, denn sie gab ihm den Kick, wenn er spürte, dass es der richtige Schritt ist, den er gehen will: „Ich stelle mich der Herausforderung, nehme sie an und meistere sie. Unbedingt.“ Immer wieder spricht er in diesem Zusammenhang auch von seiner „inneren Stimme“: „Freude dich, dass du dich qualifiziert hast. Mal schauen, ob überhaupt irgendeine Medaille drin ist.“ Seinen undefinierten Erfahrungsschatz hat Klitschko immer Bauchgefühl genannt: „Ich hörte auf meinen Bauch und verließ mich auf meine Erfahrungen und mein Wissen, das ich über die Jahre gesammelt hatte. Auf meine Expertise.“
Um seine Erfahrungen und Kenntnisse zu teilen, begründete er 2016 den Weiterbildungsstudiengang „CAS Change&Innovation Management“ an der Universität St. Gallen. Seine Prinzipien des Challenge Managements sind auch als Buch erschienen. Sieben Themen (Ergo sum) bestimmen sein Handeln, seine Lebensanschauung und seine Art, Entscheidungen zu treffen. Bei Ergo sum denkt man unweigerlich an den französischen Philosophen und Mathematiker René Descartes, der allerdings auch den Zweifel brauchte, um rückschließen zu können, dass er denkt und existiert. Mit seinem Satz „Cogito ergo sum“ wurde er zu einem der bedeutendsten Wegbereiter der Aufklärungsphilosophie: "Ich zweifle, also bin ich, oder was dasselbe ist, ich denke, also bin ich."
„Ergo sum“ – also bin ich. „Für mich ist klar, wer ich bin“, sagt Klitschko. Seine Grundsätze können die Leser auf ihr eigenes Leben übertragen. Sie unterstützen sie dabei zu erkennen, dass allein auf das Denken nicht immer Verlass ist und Kopf und Bauch zusammengehören:
E - Expertise
R - Rightness
G - Globalism
O - Optimism
S - Sustainability
U - Uncomplexity
M - Maximum
Birgit Barthels, die seit Mai 2018 bei karriere tutor als Dozentin für SAP MM und SD arbeitet, betont ebenfalls, dass Menschen, die sich auf ihr Bauchgefühl verlassen, häufig richtiger liegen als die systematischen Denker: „Je mehr Erfahrung man hat, desto besser kann man intuitiv entscheiden - da sind die älteren Menschen im Vorteil.“ Die genannten Beispiele haben gezeigt, dass gesammeltes Erfahrungswissen das Fundament von Intuition (lat. intuitio, etwas unmittelbar ansehen) ist, die zur Erkenntnis der Dinge führt, ohne dass man sich bewusst wird, „wie" sie erkannt werden. Laut Duden ist sie „das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs.“
Allerdings bestätigen neuere Studien, dass Intuition nur in jenen Bereichen wirklich treffsicher ist, in denen wir über viel Erfahrung verfügen. Die Komplexitätsgesellschaft macht heute vieles unvorhersehbar. Das bereitet vielen Menschen mehr Angst als das „Negative", das sie sich „ausmalen" können und dadurch scheinbar mehr Kontrolle haben. Wenn es jedoch ums Unbekannte geht, sind sie häufig hilflos, weil es an Wissen und Erfahrungen fehlt. Dadurch schwindet auch die Verlässlichkeit der Intuition als Mittel der Beurteilung.
Damit verbunden ist auch „gesunder Menschenverstand“, der bildliche Vorstellungen und konkrete Situationen benötigt, immer einen Schritt nach dem anderen macht und sich kein X für ein U vormachen lässt, was zu einer Urteilssicherheit beiträgt. Nach Robert Nehring steht der Begriff im Wesentlichen für den einfachen, erfahrungsgestützten und allgemein geteilten Verstand des Menschen. Ihm entspricht, was leicht zu verstehen ist und durch Erfahrung bestätigt werden kann: „Statt sich in schwierige Theorien zu versteigen, zählt er eins und eins zusammen.“ Durch seine Erfahrungsnähe erweist er sich als „sehr kompetent“ in der konkreten Anwendung von Regeln. Sein Urteil ist zielorientiert, aufs Nützliche, Angemessene und Zweckmäßige bedacht. Deshalb eignet er sich hervorragend, den Alltag pragmatisch zu meistern. In Österreich wird in diesem Zusammenhang auch von der Domäne des „Hausverstandes“ gesprochen. Sein „Gebrauch“ ist einfach und bedarf keiner großen Anstrengung, zu der beispielsweise tiefe Reflektion gehört. Deshalb lassen sich seine Urteile auch nicht streng rational begründen. Sie überzeugen durch:
Wahrscheinlichkeit
Nachvollziehbarkeit
Anschaulichkeit
Der gesunde Menschenverstand ist Anwendungsverstand, hat seine Domäne also in den „praktischen Fragen des alltäglichen Lebens“. Er ist Normal-, Erfahrungs- und Jedermannsverstand zugleich. Führungskräfte, die dem gesunden Menschenverstand vertrauen, unterscheiden sich von anderen, die vorwiegend auf antrainierte Managementmethoden setzen, vor allem darin, dass sie ihre Arbeit um das entscheidende Maß persönlicher nehmen, intuitiv handeln und niemals mittelmäßig sind.
Weiterführende Literatur:
Wladimir Klitschko (mit Stefanie Bilen): Challenge Management. Was Sie als Manager vom Spitzensportler lernen können. Mit einem Nachwort von Arnold Schwarzenegger. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017.
Alexandra Hildebrandt: Kopf oder Bauch? Wie wir heute die richtigen Entscheidungen treffen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle 2017.
Fredmund Malik: Gefährliche Managementwörter. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017.
Robert Nehring: Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant. Duncker & Humblot GmbH, Berlin 2010.
Katharina Pavlustyk: Liebe deine Arbeit. 18 Experten zeigen Wege zur Berufung. tredition GmbH, Hamburg 2016.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.