Rückbesinnung auf Analoges: 150 Jahre Postkarte
Der Augenblick kann heute überall auf Facebook, Instagram, Twitter geteilt werden. Aber nachhaltig bewahren lässt er sich nur auf Papier. Mit fortschreitender Digitalisierung wächst auch die Rückbesinnung auf Analoges, auf greifbares Erleben und Dinge, die uns eine tiefe Befriedigung im Hier und Jetzt geben. Die Faszination und Vorliebe dafür sind heute ein letzter Rest, der eine Gegenmacht zur Rationalisierung der Gesellschaft darstellt. In einer Zeit, in der die Post immer mehr Filialen schließt sowie Briefkästen und Briefmarkenautomaten abbaut, liegt das Schreiben (mit der Hand), Versenden und Veröffentlichen von Postkarten im Trend. Laut einer aktuellen Umfrage des Digitalverbandes Bitkom meldet sich mehr als jeder zweite Urlauber (55 Prozent) mit einer Postkarte oder einem Brief aus den Ferien.
Während die Preußen einen Verfall der Sitten befürchteten, waren die Österreicher mutiger und führten die Postkarte vor 150 Jahren ein. In den deutschen Staaten wurde sie erst ab 1870 eingeführt: Bereits im Jahr 1900 wurden eine Milliarde Exemplare versendet, die Hälfte davon Ansichtskarten. Das Medium profitierte auch von der Entwicklung der Fotografie und des aufkommenden Massentourismus. „Was ist das Erste, wenn Herr und Frau Müller in den Himmel kommen? Sie bitten um Ansichtspostkarten.“, schrieb Christian Morgenstern (1871 - 1914) 1907 (Aphorismen und Tagebuch-Notizen). Im Ersten Weltkrieg „ergoss sich eine Flut von zehn Milliarden Feldpostkarten in deutsche Briefkästen. In den 50er- bis 80er-Jahren beförderte die Deutsche Bundespost jährlich stabil um die 900 Millionen Stück.“ Dem Jubiläum widmet sich das Museum für Kommunikation in Berlin mit der Ausstellung "Mehr als Worte, 150 Jahre Postkartengrüße“, die noch bis zum 5. Januar 2020 zu sehen ist. 500 Exponate erzählen von der Vielfalt des sinnlichen Mediums.
Da Nachrichten heute immer sofort zu Verfügung stehen, ist die Schauspielerin Caroline Peters fasziniert von der Vorstellung, dass Postkarten eine lange Reise hinter sich haben und Geschichten erzählen, die uns Halt und Identität geben als nostalgische Objekte zuweilen auch einen Mythos von Heimat symbolisieren, die sich für den verstorbenen Publizisten Roger Willemsen „aus lauter verlorenen, entzogenen, verschwundenen Dingen“ zusammensetzte. Wer auf Dinge und das, was sie erzählen, heute verzichtet, schwächt seine Möglichkeiten, klar zu denken und einsichtig zu handeln. Das Thema beschäftigt uns heute vielleicht deshalb verstärkt, weil wir in vielen Bereichen - nicht zuletzt durch den Einfluss der digitalen Informationstechnik - die Kontrolle über viele Aspekte unseres Lebens verloren haben. Viele Menschen fühlen sich fremdbestimmt. Postkarten können helfen, ihnen ein Stück Identität zurückzugeben.
Vor einigen Jahren machte Sabine Rieker eine Gesprächstherapie. Da ihr Therapeut nebenbei als Landschaftsfotograf arbeitete, schenkte er ihr Postkarten mit seinen Motiven. Ihren Dank dafür schrieb sie ihm auf eine dieser Postkarten und sandte sie zurück. Rieker studierte Germanistik und Kunstgeschichte und ließ sich zur Werbetexterin ausbilden. Allerdings machte sie bald die Erfahrung, dass "Kreativität auf Knopfdruck" nicht funktioniert. Ihr „schriftstellerisches“ Format ist heute die Postkarte. Auf der Website postcrossing.com können sich Interessierte anmelden. Wer eine Karte schreibt, erhält eine zurück. Für Sabine Rieker war es jedoch zu viel Post. Auf ihre Dankeskarten an Postkartenhersteller wurde sie mit weiteren Karten beschenkt, die sie wieder hinaus in die Welt sendet. Vier Wochen im Jahr gibt sie Segelunterricht – in der anderen Zeit schreibt sie auf Ansichts-, Werbe- und Kunstkarten Gruß und Dankesworte sowie persönliche Erlebnisse. Die Arbeiten der hauptberfllichen „Postkartenschreiberin“ sind auf Facebook und Instagram zu verfolgen. Sie erhält Fanpost, Einladungen und zahlreiche Aufträge, Karten in ihrem Namen an Dritte zu schreiben.
Postkarten tragen dazu bei, die Welt im Kleinen buchstäblich zu be-greifen. Caroline Peters mag Details und Nebensächlichkeiten, weil sie uns dabei helfen, das große Ganze besser zu verstehen. Zusammen mit einem Freund gründete sie einen Kunst- und Postkartenverlag. Denkend und sinnstiftend tätig zu sein verbinden beide mit den schönen Dingen des Lebens. Sie gestalten Postkarten und beschäftigen sich mit unterschiedlichen Motiven. Dabei geht ihnen immer auch um den Dienst am Menschen und Nachhaltigkeit, denn: „Wer schreibt, bleibt – wer spricht, nicht!“ (Robert Gernhardt)
Weiterführende Informationen:
„Ich bin besessen von Details“. 2.794 Wörter mit Caroline Peters. In: GALORE 8 (2017), S. 48-57.
Josef Kelnberger: Bitte mit Schnörkel. In: Süddeutsche Zeitung (24-725-726.12.2016), S. 48.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.