© Pixabay

Sammelliebe: Was es bedeutet, gestaltend auf die Welt einzuwirken

Wo alles schneller, unüberschaubarer und anonymer wird, wachsen die Sehnsucht nach einer intakten analogen Welt und das Bedürfnis nach Greifbarem und Werthaltigem. Unser Tastsinnessystem hält heute nicht nur die Welt zusammen, sondern auch unseren Geist.

Ohne Tastsinn können wir nicht leben. Wer gestaltend auf die Welt einwirken möchte, sammelt Erfahrungswissen, schätzt handwerkliche Fähigkeiten und widmet seine Aufmerksamkeit auch jenen Dingen des Alltags, die häufig übersehen werden. Zu ihnen gehört auch der Frankfurter Soziologe Tilman Allert, der eine „Soziologie der kleinen Dinge“ zusammengetragen hat. Darunter finden sich Nerdbrillen, High Heels, Jeans oder Küchenmaschine. Damit möchte er die Soziologie unter die Menschen bringen, weil diese Disziplin für die Wahrnehmung und Gestaltung unserer Ordnung von „unglaublicher Bedeutsamkeit“ sei.

In Krisenzeiten ist die emotionale Bindung an nicht kopierbare und konkurrenzlose Dinge, die mit den eigenen Händen zusammengefügt wurden, besonders ausgeprägt. Aber auch generell gilt: Die kleinen „Mode- und Luxussachen" sind nicht bloß „Tand und Kitsch" und eine „Erfindung geldgieriger Fabrikanten und Händler", sondern „eine Welt von Dingen, welche alle den einzigen Zweck haben, der Liebe zu dienen, die Sinne zu verfeinern, die tote Umwelt zu beleben", schreibt Hermann Hesse in seinem Roman „Der Steppenwolf" (1927). Wir brauchen Dinge und Symbole für unsere Identität.

1990 entsorgten die DDR-Bewohner 19 Millionen Tonnen Müll (1,2 Tonnen pro Person). Das war dreimal so viel wie die bundesdeutsche Pro-Kopf-Rate in diesem Zeitraum. „Eine ganze Kultur verschwindet, weil sie noch nicht als historisch, sondern nur als alt angesehen wird", sagt der Historiker Dr. Justinian Jampol, dessen Arbeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der Visual Cultural Studies und dem Zusammenhang zwischen zeitgenössischer Kunst und der Ikonografie des Kalten Krieges liegt. Als die Mauer fiel, war der US-Amerikaner elf Jahre alt. Seit dem Jahr 2000 sammelt er Designobjekte, Artefakte und Alltagsgegenstände aus der DDR (1949 bis 1989). 2002 gründete er das Wendemuseum. Damals studierte er noch an der Oxford-Universität und machte seinen Master im Fach Russian and East European Studies. Während eines Semesters in Berlin fand er im offiziellen Bundesarchiv nicht das passende Quellenmaterial, das er zur Beantwortung seiner Fragen in Bezug auf den Alltag in der ehemaligen DDR benötigte.

Er beobachtete, dass einzelne Bruchstücke der Geschichte regelrecht ausradiert wurden. „Die materielle Kultur der DDR und die Art und Weise, wie diese ,Dinge‘ seit 1989 gesammelt, verramscht, ignoriert, weggeworfen, ausgestellt und verlacht werden, zeigen, inwieweit die Geschichte der DDR immer noch die Gemüter entzweit und keinen Konsens gefunden hat.“ Um herauszufinden, was kulturell relevant ist, musste er zunächst herausfinden, wo sich die faszinierendsten DDR-Relikte befinden. Er durchsuchte Keller, Dachböden, Flohmärkte und Atomschutzbunker und fand hier „Dinge, die die Leute traumatisierten, die sie liebten und wegwarfen." Mit dem Akt des Zusammenstellens soll ein Nachdenken herausgefordert und angeregt werden, das auf unser gegenwärtiges Sein zurückwirkt.

Dinge können angesammelt oder systematisch gesammelt werden – beides ist miteinander verwandt. Walter Benjamin schreibt in seiner „Rede über das Sammeln“: „Man hat nur einen Sammler zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in den Händen, so scheint er inspiriert durch sie hindurch, in ihre Ferne zu schauen. Soviel von der magischen Seite des Sammlers (…)“. Sammler schätzen (auch) den (ideellen) Wert der Dinge und ihre raumeinnehmende Präsenz. Sie sehen in ihnen etwas, das anderen verschlossen bleibt: Geschichten.

Schon Goethe war ein begeisterter Sammler, den die Sammelleidenschaft seines Vaters Johann Caspar prägte: Er sammelte neben antiken Klassikern sowie zeitgenössischen Dichtern Bücher aus fast allen Bereichen der Wissenschaften. Neben seiner Bibliothek hatte er ein Gemäldekabinett, er sammelte aber auch Globen und Landkarten, Glas und Porzellan sowie Naturalien wie Muscheln und Steine. All dies spiegelt sich auch in Goethes Kunstsammlung, die etwa 26.000 Objekte aus allen Epochen umfasst: Originale und Kopien von Gemälden, Grafiken, Zeichnungen (darunter 2000 eigene Zeichnungen), außerdem Medaillen und Münzen. Auch Handschriften (Briefe, literarische Texte, Notenblätter, Notizen) von bekannten Malern, Dichtern, Komponisten, Politikern und Monarchen sind Bestandteil seiner Sammlungen.

Auch andere Sammlungen, wie das Museum des Italieners Ettore Guatelli, verzögern den Verfall der Dinge: Vergänglichkeit erhält hier einen Aufschub. Auf der Fahrt durch das Tarotal in Italien empfiehlt sich bei Fornovo di Taro ein Besuch seiner Sammlung an Arbeits- und Haushaltsutensilien aus dem Bauernleben und dem Handwerk, dazu Spielzeug, Musikinstrumente und vieles mehr - insgesamt 60000 Gegenstände, die zu einem Gesamtkunstwerk kombiniert sind: eine phantastische Dingwelt, die die Spuren vergangenen Lebens bewahren soll.

Es ist sicher kein Zufall, dass der Soziologe, Gesellschaftstheoretiker und Verwaltungsjurist Niklas Luhmann (1927–1998) noch immer einer der meistgelesenen Autoren ist. Er war ein sammelnder Denker und denkender Sammler, der in den 1950er-Jahren begann, einen Zettelkasten aufzubauen, der zu einem rasant anwachsenden, dynamischen Katalog mit fester (Unter-)Nummerierung und einem Register wurde. Am Ende umfasste der Kasten insgesamt 90.000 Zettel – auch dieses Thema beschäftigt die Welt der Blogger und die junge Generation in besonderer Weise, denn Zettel sind ein Ausdruck ihrer Welt und unserer Gesellschaft: Sie sind Gedächtnisstützen, Liebesbeweise, Ordnungsanker oder einfach nur Lebensbegleiter. An ihnen lässt sich ablesen, was unser Leben heute ausmacht, wer wir sind und was wir wollen. Klares Denken und Schreiben brauchen Struktur und Präzision. Deshalb ist der Zettel für viele Menschen auch im Digitalisierungszeitalter unverzichtbar und ein Zeichen nachhaltiger Restkultur. Mithilfe von Zetteln setzte Luhmann Begriffe, Theorien, Zitate und historische Dokumente in Beziehung und arrangierte sie neu. Sein Zettelkasten („Zweitgedächtnis") überraschte ihn immer wieder und brachte ihn auf neue Ideen. Was diesen „Baumeister" der Sprache und Schrift so modern und anziehend für die junge Generation macht, ist sein Denken in Alternativen und Möglichkeiten - und seine Erkenntnis, dass wir im Komplexitätszeitalter überraschende Strukturveränderungen verkraften müssen, die durch Zufälle ausgelöst sind.

Über sein „Zettel-Imperium" schrieb Sabine Wolf, Leiterin des Literaturarchivs in der Berliner Akademie der Künste. Sie beschäftigt sich u.a. mit dem Zettelkasten als Urform des Archivs: So verkündete Kempowski bereits als Zehnjähriger, dass er „Archiv werden" will. Mit dem Berufswunsch verbunden war der Wunsch und Wille, Dinge zu erschließen, zu strukturieren, bewahren und anderen zugänglich zu machen. Sabine Wolf verweist darauf, dass er bereits als Schüler Lektürelisten führte und gesehene Kinofilme auf Karteikarten verzeichnete. Sein späteres Schicksal „war wie das vieler mit der deutschen Vergangenheit, der Naziherrschaft, dem Zweiten Weltkrieg und allen seinen Folgen untrennbar verbunden. Die Welt seiner Kindheit existierte nicht mehr, nirgends." Seine „Verzettelungsmethoden" entwickelte er stetig weiter, indem er seine Transkriptionen der Tonbandinterviews in Partikel „zerlegte", einzelne Erzählpassagen auf Stichwortzettel notierte und diese nach bestimmten Schwerpunkten in Karteikästen zusammenstellte. Wie bei Luhmann wurde auf diese Weise die Vielfalt des Lebens in übersichtliche Formen gebracht, neu strukturiert und arrangiert: „Gerüst und Inspirationsquelle" zugleich. In seinem Archiv hinterließ er Tausende von Karteikarten. Der Schriftsteller beabsichtigte, damit die Facetten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Katastrophen und Umbrüchen besser verständlich machen zu wollen „und daraus - womöglich - zu lernen". Uns an Chaos und Struktur der Weltprozesse zu erinnern, die nur ein Literat in dieser besonderen Weise verdichten kann, ist in diesen Zeiten wichtiger denn je.

Die Ordnung der Dinge verdankt sich dem klugen Denken. Um es zu bewahren, muss es nicht nur erschlossen, sondern auch nachhaltig „umschlossen" werden. So sind die Archivkästen in der Berliner Akademie der Künste, die etwa die Größe von Schuhkartons haben, säurefrei und mit einem Auszugsschuber versehen. „Die Archivalien werden jeweils noch in säurefreie Papierumschläge und Faltmappen verpackt, um die Lagerungsbedingungen möglichst stabil zu halten", sagt Sabine Wolf. Büromaterialien haben Walter Kempowski schon immer fasziniert: „Ein sauber angespitzter Bleistift, ein Füllfederhalter mit goldener Feder, Ordner, Vorordner, Notizbücher jeder Art und Karteien." Dafür begeistern sich viele Menschen. Gern gekauft werden heute auch nachhaltige Varianten wie Schubladenboxen (z.B. "Elfenbein"), die in sorgfältiger Handarbeit hergestellt wurden. Alle Elemente werden ausschließlich aus Sperrholz, Hartpappe, Leinen und pH-neutralem, säurefreiem Papier gefertigt und mit Leim verklebt. Viele Produkte sind aus 100 % Recyclingkarton aus deutscher Fertigung bei memolife erhältlich („Color"). Aus massivem Buchenholz, das ebenfalls aus unabhängiger, zertifizierter europäischer Forstwirtschaft stammt, werden auch Allzweckcontainer gefertigt. Die Archivbox "Cartobox" (Exacompta) aus FSC-zertifiziertem Manilakarton bietet im zusammengebautem Zustand Platz, um Dokumente im Format DIN A4 umweltbewusst zu archivieren. Es drängt sich eine kleine Weisheit auf: Kennt die Welt da draußen nur noch Preise, aber nicht mehr den Wert der Dinge, dann werden die persönlichen Ablagesysteme wachsen und das Bedürfnis zunehmen, die Welt neu zusammenzusetzen. Nachhaltig.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. 2. Auflage. Berlin Heidelberg 2021.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

Artikelsammlung ansehen