Ingrid Gerstbach

Ingrid Gerstbach

für Innovation und Lernen, Psychologie und Persönlichkeit, Empathie, Design Thinking und Moderation

Schüchtern oder introvertiert? Warum der Unterschied im Job entscheidend sein kann

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Augen zu – dann sieht mich keiner …

Der Hauptunterschied zwischen Schüchternheit und Introversion liegt darin, ob Sie Ihre Angst vor sozialen Kontakten ablegen können oder nicht. Doch wie erkennt man den Unterschied?

Introvertiertere Menschen haben viel zu bieten: zum Beispiel ein hohes Maß an Konzentration, ein großes Potenzial an Kreativität und eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe. Gut ein Drittel der Gesamtbevölkerung ist eher introvertiert – und trotzdem wird dieses Persönlichkeitsmerkmal so oft missverstanden. Der Psychiater C.G. Jung definierte Introvertiertheit durch einen Gewinn an Energie in der Ruhe und einem Verlust derselben während der Interaktion mit anderen Menschen, während Extrovertierte in sozialen Situationen ihre Kraftreserven auftanken würden.

Ein Großteil des Problems kommt von der synonymen Verwendung der Begriffe schüchtern und introvertiert. Der Unterschied ist aber weitaus komplizierter.

Wer schüchtern ist, verspürt im Gegensatz zu introvertierten Menschen ein gewisses Unwohlgefühl bis hin zu Angst bei der Interaktion mit anderen Menschen. Viele Introvertierte sind gar nicht schüchtern. Im Gegenteil: Sie fühlen sich sogar sicher und wohl in der Nähe von Menschen – aber sie benötigen mehr Zeit, um die Energie auszugleichen, die sie in sozialen Situationen verbrauchen. Ebenso kann ein Extrovertierter die Gesellschaft anderer suchen, sich jedoch in Gruppen unsicher oder unwohl fühlen. Introversion könnte als intrinsische Motivation bezeichnet werden: Es geht darum, wie viel Interaktion Sie mit anderen Menschen brauchen, wollen und auch suchen. Schüchternheit dagegen ist ein Verhalten, eben wie Sie in sozialen Situationen reagieren und sich fühlen.

Die gute Nachricht ist, dass die Überwindung sozialer Ängste machbar ist. Es gibt viele kreative Möglichkeiten, die eigene Schüchternheit abzulegen. Und es ist ein Ziel, dass sich lohnt, weil es das eigene Leben nicht mehr länger einschränkt. Die Ironie dabei ist, dass dieser sozialen Angst oft ein Denkfehler zugrunde liegt, nämlich dass die Betroffenen denken, dass sie die einzigen wären, denen es so geht.

Laut Professor Dr. Jonathan Cheek gibt es vier verschiedene Unterkategorien von Introvertiertheit.

  1. Sozial: Die Betroffenen suchen nicht nach sozialen Kontakten, verspüren aber eine soziale Angst. Wenn sie sich beispielsweise mit einem neuen Bekannten unterhalten wollen, reagieren sie sehr zurückhaltend.
  2. Denkend: Personen, die zu diesem Typ zählen, gehen sozialen Anlässen mit vielen Menschen normalerweise gar nicht explizit aus dem Weg. Sie sind aber nachdenklich und reflektieren viel. Dadurch verlieren sie sich oftmals in ihrer eigene Fantasiewelt, die allerdings Kreativität und Einfallsreichtum fördert.
  3. Zurückhaltend: Diese Gruppe möchte so gern mit anderen zusammen sein. Um das zu ermöglichen, sind sie sehr zuvorkommend und bescheiden. Selten bringen sie ihre eigenen Bedürfnisse zur Sprache. Wenn Menschen die Dinge etwas langsamer angehen und lieber darüber nachdenken, bevor sie etwas sagen oder tun, dann wirken sie oft zurückhaltend. Sie brauchen gefühlt mehr Zeit als andere, um aktiv zu werden. Allerdings erledigen sie viele Dinge sorgfältiger und gewissenhafter.
  4. Ängstlich: Diese Menschen haben ein starkes Bedürfnis nach sozialem Kontakt, haben aber Angst davor, etwas falsch zu machen. Sie trauen ihren eigenen sozialen Fertigkeiten nicht und bleiben lieber allein. Ihr Motto: Sicher ist sicher, da kann nichts schiefgehen.

Introvertiertere Personen können sich bewusst dazu entschließen, mit anderen Menschen sozial zu interagieren – sie wollen nur einfach oft nicht und ziehen die Einsamkeit vor. Schüchterne Menschen andererseits können nicht einfach mit jemanden sozial interagieren. Ihre Angst davor ist zu groß. Wenn aber schüchterne Personen ein starkes Bedürfnis verspüren, Kontakte zu knüpfen, wird das zum Problem.

Ein Introvertierter meldet sich also vielleicht weniger oft bei einem Meeting zu Wort. Aber nicht weil er oder sie Angst vor der Reaktion eines anderen hat, sondern weil er/sie einfach keine Motivation spürt, die eigenen Idee mit anderen zu teilen. Eine schüchterne Person möchte sich vielleicht im Meeting einbringen, schafft es aber nicht, weil sie so viel Angst hat, dass sie schon beim Gedanken daran Schweißausbrüche erleidet.

Introvertiertere mögen Menschen wirklich, und sie mögen es auch, Kontakte zu knüpfen. Es sind nur andere Wege, als die, die die meisten extrovertierteren Personen wählen würden.

Der Hauptunterschied zwischen Schüchternheit und Introversion liegt darin, ob Sie Ihre Angst vor sozialen Kontakten ablegen können oder nicht. Egal ob Sie introvertiert oder extrovertiert, schüchtern oder kontaktfreudig sind – jeder Mensch braucht und verdient die Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe anderer Menschen. Es ist ein Teil dessen, was unser Leben so lebenswert macht.

Zu welcher Gruppe zählen Sie, und welche Erfahrungen machen Sie mit Ihren Mitmenschen? Ich freue mich über Ihr Feedback.

Dieser Artikel erschien zuerst hier.

Wer schreibt hier?

Ingrid Gerstbach
Ingrid Gerstbach

Design Thinking Expertin, Autorin, Wirtschaftspsychologin, Design Thinking - Ingrid Gerstbach

für Innovation und Lernen, Psychologie und Persönlichkeit, Empathie, Design Thinking und Moderation

Ingrid Gerstbach ist Innovationsexpertin und gilt als deutschsprachige Koryphäe der aus den USA stammenden Innovationsmethode Design Thinking. Die Betriebswirtin, Wirtschaftspsychologin und Erwachsenenbildnerin berät internationale Unternehmen und Universitäten und schreibt Kolumnen und Bücher.
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