Sehnsucht nach Aufgeräumtheit: Ordnung und die Kunst des klugen Denkens
Gegen die Unordnung der Welt
Dem Chaos und der Unordnung der Welt haben die Klugen und Reflektierten schon immer eine eigene Logik entgegengesetzt, die sie selbst geschaffen haben: durch auswählen, sammeln, zerlegen und neu zusammenfügen. Viele Studien verweisen darauf, dass in unübersichtlichen und unsicheren Zeiten für die Generation Z (die zwischen 1995 bis 2010 Geborenen) die Konzentration auf das Überschaubare und Machbare ein wichtiger Aspekt in ihrem Wertesystem ist. Viele haben sogar den Berufswunsch, Beamte zu werden. Das hat nicht nur mit dem Bedürfnis nach Sicherheit zu tun, sondern auch mit der Sehnsucht nach Fokussierung, Sammlung und Aufgeräumtheit: Ordnung.
Das Wort kam über die Architektur ins moderne Denken, wo es ursprünglich für ein Ganzes stand: Alle Teile passten zueinander, so dass keines ersetzt werden konnte, ohne die Harmonie zu zerstören. Unordnung spiegelt sich in einem Denken, das sich nicht mehr sammeln kann, weil es den Überblick verloren hat. Adam Soboczynski befasste sich im ZEIT-Artikel „Die Ordnung der Dinge“ mit dem Büro von US-Präsident Trump, in dem sich Zeitungen und Bücher stapeln und viel Ungeordnetes zu sehen ist: „Tinnef, ein eigenwilliger Teppich in Kachelmuster, an der Wand Auszeichnungen und Fotos in Petersburger Hängung“. Keine vertiefende Reflektion, nirgends. Klares Denken und Handeln brauchen Struktur und Präzision.
Geordnete Arbeit
Die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber mag morgens ihre Wohnung nicht verlassen, wenn nicht alles an seinem Platz ist. Das gilt auch für das Büro: „Ich kann dann am besten arbeiten, wenn ich nur das aktuelle Projekt auf dem Schreibtisch liegen habe. Es kam daher schon vor, dass ich gefragt wurde, ob ich demnächst Urlaub hätte oder das Unternehmen verlassen würde." Auch mit ihren Gedanken verhält es sich so: „Ich fühle mich schlecht und unruhig, wenn in meinem Oberstübchen ‚Chaos' herrscht." Häufig zieht sie sich dann für einige Stunden zurück, um wieder eine Ordnung im Geist entstehen zu lassen. Danach fällt es ihr leichter, klare Gedanken zu fassen und „Ent-Scheidungen“ zu treffen.
Unterlagen zu erledigten Projekten legt sie immer sofort ab – „und zwar so, dass diese auch danach wieder auffindbar sind. Unterlagen zu laufenden Projekten oder Dokumente, auf die ich laufend Zugriff haben muss, sind bei mir nach Thema abgelegt und zwar in zwei Ablage- und Sortierboxen aus Holz.“ Das Kleine und Unscheinbare ist ihrer Ansicht nach nicht zu unterschätzen im großen Chaos der Welt: „Selbst mit Büroklammern lässt sich eine Brücke zum Thema Ordnung schlagen - auch diese kleinen Dinge sorgen dafür, etwas zusammenzuhalten und einzuordnen.“
Putzen gehört für viele Menschen in die Kategorie von Nichtereignissen
Putzen genießt heute keinen guten Ruf, weil es für Gedankenlosigkeit und Zeitverlust steht. Die Zeit beim Saubermachen könnte doch viel „effizienter" genutzt werden, so ein gängiges Argument. Ein schlechtes Gewissen ist jedoch keineswegs bei einer solchen Tätigkeit angebracht, denn das Putzen macht uns bewusst, wie wichtig Selbst-Besinnung und Selbst-Bestimmung in einer in Unordnung geratenen Welt ist. Beim Putzen geht es immer auch darum, selbst die Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu haben - und zu behalten.
Für viele Menschen ist Putzen auch ein Ritual, eine selbstbezügliche „Handlung ohne Worte“ (Christoph Wulf), die Intensität und innere Befriedigung vermittelt – aber auch sehr viel aussagt über die Qualität des Fließens von inneren Prozessen, die für selbstverständlich gehalten werden und körperlich verinnerlicht sind („das ist wie ein Teil von mir“). Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat sie untersucht und für sie den Begriff „Flow-Erlebnis“ geprägt. Wer mit der Routine des Putzens umzugehen weiß, verschafft sich auch Zugang zu beschränkten Ressourcen wie Zeit und Optimismus. Denn sie lenkt geistige Energie in geregelte Bahnen und hält Stimmungsschwankungen fern, zudem wird genauer wahrgenommen, was uns glücklich macht. Wird Routine „seelenlos“, bindet sie unsere Aufmerksamkeit nicht mehr und macht einen mechanischen, und abgenutzten Eindruck.
Claudia Silber bezeichnet sich augenzwinkernd als "Wohnungsspießerin", denn keine Woche vergeht, ohne „zumindest einmal die Wohnung von oben nach unten auf Vordermann zu bringen." Putzen ist für sie auch ein Netz aus Routinen, die wiederum eine wichtige Grundlage für zielgerichtete Aufmerksamkeit sind. Der Begriff „Routine" ist eine Verkleinerungsform von Route (einem schmalen Pfad). Beide haben mit Wiederholungen zu tun, die gleichzeitig mit einem Sicherheitsgefühl einhergehen, das viele als Gegenmittel gegen den Stress empfinden.
Eine nur „seelenlose" Routine würde allerdings unsere Aufmerksamkeit nicht mehr binden und einen mechanischen Eindruck machen. Routine und Ritual verschmelzen in diesem Prozess, der auch sehr viel aussagt über die Qualität des Fließens von inneren Prozessen, die für selbstverständlich gehalten werden und körperlich verinnerlicht sind. Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi prägte für sie den Begriff „Flow-Erlebnis".
Wer mit der Routine des Putzens umzugehen weiß, verschafft sich auch Zugang zu beschränkten Ressourcen wie Zeit und Optimismus, die geistige Energie in geregelte Bahnen lenkt, Stimmungsschwankungen fernhält und unsere Wahrnehmung schärft. Claudia Silber genießt insgeheim das Gefühl nach dem Putzen, wenn alles sauber ist und frisch riecht: „Sehr viel besser fühle ich mich seit kurzem, als ich gelesen habe, dass Putzen auch eine Art Meditation sein kann und sogar eine der wichtigsten Traditionen der japanischen Kultur ist. Selbstreinigung sozusagen - und das ist es auch für mich. Beim Putzen lasse ich Gedanken kommen und gehen, denke über schwierige Entscheidungen nach und bringe auch innerlich alles in Ordnung. Danach ist dann oft alles glasklar - im wahrsten Sinne des Wortes."
Kein Schaum
Wenn Claudia Silber von Selbstreinigung spricht, meint sie nicht nur die buchstäblich reine Innenwelt, sondern auch die äußere Umwelt. Deshalb verwendet sie ausschließlich ökologische Reinigungsmittel auf Basis nachwachsender Rohstoffe. Wer behauptet, dass Putzen eine Last sei, dem legt sie ans Herz, einfach den Blickwinkel zu ändern, und auch diese Zeit im „Hier und Jetzt" zu genießen. Ordnung fühlt sich für sie erleichternd, geerdet und bodenständig an. Das hat für sie ebenso mit Minimalismus zu tun: „Wenn wir zu viele Dinge (und Menschen) ‚anhäufen', verlieren wir den Überblick, es wird unordentlich, und wir sind letztlich nicht glücklich. Dabei geht es dann auch wieder um das Thema Konzentration, die uns den Blick auf das Wesentliche richten lässt. Die Konzentration auf die wesentlichen Dinge (und Menschen) im Leben machen uns glücklich, und wir fühlen uns ‚sortiert', gut aufgehoben. Der Rest kann getrost in den Papierkorb wandern oder besser: in gute Hände weggegeben werden."
Ordnung ist „in“…
Das konnte man auch auf der Eurocina 2018 in Mailand sehen, wo Küchenschränke zu sehen waren, die kaum einen Unterschied zu Wandschränken aufwiesen. Bei Bedarf verschwinden in kombinierten Wohn-Ess-Küchen obere Küchenzeilen und Arbeitsplatte hinter Schiebewänden. Der Trend zum „Cleanen“ bezieht sich hier nicht auf „steril“, sondern „aufgeräumt“(!) – in einer solchen Küche verschwindet alles, was an Essen und Arbeit erinnert. Die moderne Küche besticht durch Klarheit der Linie, Schlichtheit der Geometrie und nachhaltiges Material. Einerseits halten Wohnzimmermöbel-Elemente wie Bücherregale Einzug in der Küche und verändern den Charakter des Raums fundamental. Andererseits sorgen Bewegungs-Systeme und Stauraumkonzepte dafür, dass die wohnliche Anmutung der Küche nicht durch technische Geräte oder funktionale Komponenten geschmälert wird. „Eine gute Innenausstattung sorgt dafür, dass alles seinen Platz hat, optimal gelagert wird und schnell im Zugriff ist. Dies spart Zeit, schont Ihre Nerven und gibt Ihnen ein gutes Lebensgefühl“, heißt es in der Broschüre „Ordnung ist das halbe Leben“, die vom Küchenhersteller Häcker herausgegeben wurde. Darin enthalten sind auch Tipps für einen organisierten Haushalt wie Verzicht auf Kramschubladen, griffbereites Sortieren, effektive Planung des Abfallsystems unter der Spüle, optimale Küchensicherheit, smarte Gestaltung des Spülunterschranks, hygienisches und praktisches Verstauen der Putzmittel und die stilsichere (Aus-)Nutzung der Küchenwände. Zudem wird dafür plädiert, das Schöne mit dem Praktischen zu verbinden – ganz im Sinne von William Morris, der einmal gesagt hat: „Habe nichts in deinem Haus, von dem du nicht glaubst, dass es nützlich oder schön ist.“
Das neue Umweltbewusstsein ist auch auf der Design Week 2019, der weltweit führenden Möbelmesse in Mailand allgegenwärtig. „Die verantwortungsvolle Nutzung der Ressourcen ist zum Imperativ geworden“, schreibt Ulrike Sauer in ihrem SZ-beitrag „Zeitlos grün“. Nachhaltigkeit lässt sich aber nicht allein an der Herkunft der Produkte oder der Energieeffizienz festmachen, denn letztlich sollten auch das Produktdesign besonders im Premiumbereich – seien es die Küchen selbst oder die in ihnen verbauten Geräte – von sich aus schon nachhaltig sein. Beim Rödinghausener Küchenhersteller unterliegt das Design keinen saisonalen Styles, sondern entwickelt sich im Einklang mit Mensch, Umwelt und Zeitgeist organisch weiter. Nachhaltiges Design ist niemals modisch. Trends hingegen verschleißen. Deshalb sind viele Produkte nachhaltiger Hersteller vergleichsweise unprätentiös. Sie treten leise auf und überzeugen eher mit durchdachten Konzepten als mit hitverdächtigen Höchstleistungen. Materialwahl, Qualität, Konstruktion und Service sind dabei wichtiger als die Formgebung. Auch diese Aspekte gehören zur Kunst des klugen Denkens, die eine eigene Ordnung der Dinge schafft.
Weiterführende Informationen:
Alan Moore: Design. Warum das Schöne wichtig ist. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
Ordnung ist das halbe Leben. Hg. von Häcker Küchen 2018.
Sarah Schmidt: Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns. Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2016.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Küchen-Kultur und Lebensart: Warum Verantwortung nicht zwischen Herd und Kühlschrank aufhört. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.
Adam Soboczynski: Die Ordnung der Dinge. In: DIE ZEIT (19.1.2017), S. 3.
Ulrike Sauer: Zeitlos grün. In: Süddeutsche Zeitung (24-/25. 8.2019), S. 45.
Edith Stork: Tatort Büro. Gegen die Zurichtung des Menschen im Büro. Beltz: Weinheim und Basel 2004.