Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Sie sollen arbeiten, nicht denken!

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Eine Ansage, die Mitarbeiter von ihren Chefs heute zu hören bekommen, wenn sie das Tagesgeschäft stören und unbequem werden. Warum Denkverbote in unserer Arbeitswelt von morgen nichts mehr zu suchen haben.

Ich denke, also bin ich hier falsch. 

Diesen Satz entdeckte ich neulich, als ich bei einem Kunden durch ein Großraumbüro ging. In fetten Lettern ausgedruckt gut sichtbar auf dem Schreibtisch liegend. Was für eine Aussage, dachte ich mir, während der Chef dieses Teams an meiner Seite ging. 

Ich habe es später im Coaching angesprochen. Was sagt so etwas über den Mitarbeiter, das Team, die Führungskraft und vielleicht sogar die Kultur im ganzen Unternehmen aus? Mitarbeiter, deren Hilfeschrei so öffentlich wird – und dort einfach liegen bleibt. Menschen, die offensichtlich längst ihren Kopf aus und den Modus Dienst nach Vorschrift eingeschaltet haben. Und eine Führung, die verunsichert und hilflos zusieht. Mehr noch: Eine Führung, die bewusst oder vielleicht auch nur unterbewusst ausstrahlt, dass mitdenkende Mitarbeiter dort nicht erwünscht sind. 

Digitalisierung: Denken ist ineffizient?

Ist das etwa diese Digitalisierung, von der zurzeit alle sprechen? Sind die nach Prozessoptimierung und Kostenminimierung übrig gebliebenen Menschen bereits zu Arbeitsmaschinen mutiert, um den letzten Kampf gegen die unheimliche Jobvernichtungsmaschine namens Roboter zu gewinnen? Auf Effizienz und Fehlerfreiheit getrimmte, jeden Handgriff beherrschende 37 Grad warme Körper in Großraumhaltung, die einfach nur gewissenhaft ihre Arbeit verrichten sollen?

Keine Übertreibung. Zumindest überall dort nicht, wo es heute um Menge und Effizienz geht. An den Fließbändern der hoch technisierten Fabriken, in Call-Centern, Kunden-Hotlines und anderen großen Einheiten, in denen viele Hände das Gleiche tun. Immer mehr jedoch auch in den ehemals kuscheligen Büros und mittelständischen Strukturen familiärer Glückseligkeit, die sich heute gegen Onlinehandel und internationalen Wettbewerb zu behaupten haben.

Mit Einzug immer stärkerer Standardisierung von Arbeitsprozessen und Systemen scheinen uns gleichzeitig die ebenso für Wachstum und Erfolg elementare Dinge abhanden gekommen zu sein: Flexibilität und Kreativität im Denken, Selbstverantwortung und Reflexionsvermögen, Neugierde und Lust auf Veränderung. Alles ineffizient? Ja, scheinbar. Zumindest für die große Masse, die Menge schaffen muss.

Meier, Sie werden nicht fürs Denken bezahlt!

Karl Meier (Name geändert) ist seit sechs Monaten Führungskraft eines kleinen Teams in der Produktentwicklung bei einem Mittelständler. Er ist hoch motiviert, hat viele Ideen im Kopf und Lust, seine Mitarbeiter zu entwickeln und das Unternehmen voran zu bringen. Sie alle haben gut zu tun, die Arbeitsbelastung ist sehr hoch. Karl sitzt bei seinem Chef im Gespräch. Er sieht, wie sehr auch er mit der Fülle an Aufgaben überfordert ist und bietet seinem Chef spontan an, etwas hiervon zu übernehmen.

Eine Woche später. Alle haben sich zum Abteilungsmeeting eingefunden. Karl mit seinem Team, sein Chef und auch dessen Vorgesetzter, der Geschäftsführer. Es geht um ein neues Projekt: „Meier, Sie übernehmen (...), denn Sie scheinen ja nicht ausgelastet zu sein, wenn Sie Ihrem Chef noch Arbeit abnehmen können.“ Karl musste nach Luft schnappen, doch es fehlten ihm die Worte, erzählt er mir. Woher weiß der Geschäftsführer das? Warum stellt er mich vor der ganzen Mannschaft so bloß? Ist dies das Ergebnis von ehrlicher Hilfsbereitschaft und meiner Vorstellung von Zusammenarbeit im Team? – Viele Fragen, die ihm auch heute drei Monate nach diesem Meeting, das alles veränderte, noch durch den Kopf gehen. Er habe damals beschlossen, ab sofort Dienst nach Vorschrift zu machen – und nun sitzt er mir gegenüber, um den Jobwechsel gut vorzubereiten.

Nur ein einziger Satz, der aus maximaler Motivation und höchstem Arbeitseinsatz betäubende Demotivation werden ließ. Vielleicht unüberlegt dahergesagt, vielleicht auch durch die Brille des Geschäftsführers rational richtig. Doch die Botschaft für Karl war klar: Mitdenken ist nicht erwünscht! Für ihn war es sogar noch mehr: Wer hier mitdenkt, der wird bestraft.

Ich denke, also bin ich.

Die alten Lateiner unter Ihnen kennen dieses Zitat von René Descartes. Wir möchten uns selbst erfahren und fühlen können. Im Leben, und auch im Beruf. Mit unserer Arbeit wirksam werden, den Sinn unseres Tuns erkennen und hierfür Anerkennung von uns selbst oder von außen erfahren. Wir möchten uns weiter entwickeln, Herausforderungen annehmen, meistern und daran wachsen. Selbstverwirklichung im Beruf ist für viele Arbeitnehmer heute zu einem der wichtigsten Antreiber geworden.

Denken, um zu sein. Wer Mitarbeitern das Denken nimmt, lässt sie nicht mehr sein, was, wie und wer sie sind. Sie werden zu Arbeitsmaschinen mit Personalnummern, die zu funktionieren haben. Menschen, die täglich gegen ihre inneren Werte und ureigenen Bedürfnisse anarbeiten. Zuerst kommt der Frust, auf Dauer macht es sie krank.

Betriebliches Vorschlagswesen ist Denke von gestern

Gibt es bei Ihnen im Unternehmen auch noch so ein Programm für Verbesserungsvorschläge? Einen Briefkasten, natürlich heute elektronisch, wo Sie Ihre Ideenergüsse einwerfen können und Sie mit etwas Glück Monate später ein paar Euros mehr auf dem Gehaltszettel stehen haben? Erfunden hat es 1872 Alfred Krupp für Mitarbeiter aller Hierarchie-Ebenen, die Lust auf Denken hatten und dies abseits von Führung und Team frei ausleben durften.

Ich halte es mit Reinhard K. Sprenger, der schon 1993 forderte, dieses Innovationsinstrument in Unternehmen abzuschaffen: „Ideen bringen Geld. Bringt Geld auch Ideen?“ Seine These: Man kann sich nicht anstrengen, kreativ zu sein. Heute kommt hinzu, dass Geld für die meisten Angestellten zwar ganz nett ist, doch als dauerhafter Motivator nachweislich versagt. 

Ist es in unserer heutigen und erst recht der morgigen Arbeitswelt, in der wir über selbstorganisierende Teams, Vernetzung und agiles Arbeiten nachdenken, überhaupt noch richtig, Denken zur Belohnung auszusetzen? Sollte Denken nicht vielmehr selbstverständlich Normalität sein und ist es nicht das, was sich auch die meisten Angestellten heute intrinsisch motiviert wünschen?

Denkende, kreative und für Innovation offene Mitarbeiter dürfen nicht länger das Ergebnis eines Prämiensystems sein. Sie sollten vielmehr das Ergebnis einer wertschätzenden Führungshaltung in einer Unternehmenskultur sein, die von echtem Interesse an der Ressource Mensch geprägt ist.

Konzerne gründen Think Tanks ohne Denk-Verbote

Mancher Konzernlenker hat das Problem großflächig gelernter Denkverbote erkannt und versucht nun, das schwerfällige Schiff in neue Bahnen zu lenken. Doch was tun mit der Masse an Mitarbeitern, denen das Denken über Jahre abgewöhnt wurde – und dies für die effiziente Produktion von Menge im internationalen Wettbewerb vielleicht sogar gut und richtig so ist?

Ob die Think Tanks der Automobilhersteller im Silicon Valley, die Startups, Inkubatoren oder Accelleratoren großer Konzerne im trendigen Berlin, sie alle haben das Ziel, außerhalb starrer Prozesse, langer Entscheidungswege und unternehmenspolitisch komplizierter Gemengelagen in Konzernen Kreativität, Innovation und Fortschritt zu ermöglichen.

Diese Think Tanks als Ableger großer Konzerne sind für mich symptomatisch und ein logischer Zwischenschritt auf dem Weg durch die Transformation hin zu einer veränderten Arbeitswelt im Zeitalter von Industrie 4.0. 

Was wird uns in Zukunft von programmierten Robotern unterscheiden? Für welche Aufgaben und Tätigkeiten werden wir als Menschen in den nächsten Jahrzehnten (noch) einen Mehrwert leisten?

Kreative Denker werden in Zukunft gefragt sein

Wir können es uns nicht länger leisten, Menschen nur stumpf abarbeiten zu lassen. Es ist egal, ob sie an Maschinen stehen, in Großraumbüros sitzen oder ihre Zeit im Home-Office verbringen. Sie sind Individuen, deren Ressourcen heute vielmals nur zu einem geringen Bruchteil genutz werden. 

Auch wenn es im schnellen operativen Alltag eine bequeme Lösung ist, Arbeiter und Angestellte zu fleißigen Bienchen zu erziehen, werden es doch genau diese Jobs sein, die in den nächsten Jahren weiter von Maschinen übernommen werden. 

Je früher in Unternehmen und Organisationen wieder stärker Kreativität gefördert und behutsam Flexibilität trainiert werden, desto besser. Denn auf diese menschlichen Kompetenzen wird es aus meiner Sicht in Zukunft bei den Aufgaben ankommen, die so schnell nicht durch Technik zu ersetzen sind.

Chefs & Mitarbeiter: Lust auf frisches Denken im Team? 

Eine solche Veränderung funktioniert nicht von heute auf morgen, doch Sie können als Führungskraft und auch als Mitarbeiter gemeinsam daran arbeiten - wenn Sie es denn für richtig halten.

Für Manager und Führungskräfte bedeutet es, Beziehungen zu ihren Mitarbeitern auf- und auszubauen und bewusst jedes Handeln in den individuellen Kontext zu setzen. Individuen und ihr Denken zu sehen und zu verstehen. Ihre persönlichen Werte zu kennen, sie zu schätzen und danach zu führen. Selbstverantwortung auf Mitarbeiter zu übertragen, wo sie richtig und sinnvoll ist. Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, wo es nötig ist. Echtes Interesse an den Sichtweisen ihrer Mitarbeiter zu entwickeln und ihnen zuzuhören. Eine Fehlerkultur zu etablieren, die im Kontext des Unternehmens Kreativität und Innovation fördert. Menschen zu lieben, statt nur Ressourcen zu planen.

Für Mitarbeiter bedeutet es, das eigene Denken und Handeln bewusster und konsequenter an den persönlichen Werten auszurichten. Nicht wie im Beispiel oben den Zettel auf den Tisch zu legen und darauf zu hoffen, dass der Chef den Hilferuf erkennt und sie rettet, sondern selbst als Chef des eigenen Lebens aktiv zu werden und eigenverantwortlich etwas zu verändern. Den Boss nicht als bösen Feind, sondern als Partner mit besonderen Kompetenzen und Stärken im Team zu erkennen. Die Werte von Kollegen und Dritten zu schätzen. Weniger Ich, mehr Wir. Zu sagen, was wichtig ist, Fehler sichtbar zu machen und daraus zu lernen. Quer zu denken und Veränderung nicht nur als Bedrohung, sondern ebenso als Chance zu sehen. Mehr von dem zu tun, von dem Sie denken, dass es für Sie, das Team und die Organisation wichtig und richtig ist. 

Und, was denken Sie ..? 

„Für alles das habe ich als Chef doch heute gar keine Zeit!“ oder „Sie haben ja leicht reden, aber als Angestellter kann ich mir sowas nicht erlauben!“  

Ja? Dann denken Sie am besten nicht weiter darüber nach und gehen schnell wieder an die Arbeit.

Wer schreibt hier?

Dr. Bernd Slaghuis
Dr. Bernd Slaghuis

Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
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