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Sind wir heute zu wenig an der Wahrheit interessiert?

In der Corona-Pandemie zeigt sich in besonderer Weise, dass seriöse und differenzierte Aufklärung in der medialen Berichterstattung oft auf der Strecke bleibt. Die Grenze zwischen Fakten und Meinungen verschwimmt, die Realitätsfeindlichkeit nimmt zu, und das Richtige wird als Provokation empfunden. „Wahrheit darf nicht stören! Deshalb wird nun auf der einen Seite der wissenschaftliche Ruf der führenden Virologen angezweifelt, auf der anderen Seite aber wird jedes Wahlversprechen und jede Hausarztmeinung als absolut wahr empfunden“, bemerkt der Mathematiker und Autor Gunter Dueck.

Leider entfernen wir uns immer mehr davon, denn Tatsachen, Meinungen und Ängste werden vermischt – das schadet nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Debattenkultur. Es dominiert „oft nur noch schwarz oder weiß“, schreibt die promovierte Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“. Wissenschaft ist für sie nicht nur lösungsorientiert, sondern auch problem- und fehlerorientiert. Ihre Qualität zeigt sich allerdings nicht nur im Sammeln von Daten und Fakten, sondern vor allem in deren Auswertung. Auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sie, was wahr, was falsch und was plausibel ist. Ihre Devise: „nicht weniger streiten, nur besser.“

Das englische Wort für Wahrheit (truth) geht auf den Begriff der Treue und des Vertrauens (trust) zurück. Dass sich in der Debattenkultur jemand einfach darum ohne Eigeninteresse kümmert, ist heute kaum mehr denkbar – deshalb gerät das Richtige oder der gesunde Menschenverstand - der auch die Wahrheit verkörpert und urteilender Verstand ist - zwischen die Fronten: „Hausverstand! Bitte draußen angeleint warten! Hier wird gekämpft! Leute mit wahrhaftiger Meinung stören!“ Dass heute so vieles aus dem Ruder läuft, liegt seiner Meinung daran, dass das Hirn denkt, „aber der Instinkt lenkt.“ In diesem Zusammenhang verweist er auf Politiker, die aus der Reaktion des Volksinstinkts nicht nach guten Entscheidungen suchen, sondern nach Wählerstimmen: „Das Hirn soll beweisen, dass der Instinkt richtig lag und liegt. Um Wahrheit geht es dem Instinkt nicht.“ Wo nur darauf gesetzt wird, wird es gefährlich, weil vor allem die Sehnsucht nach Einfachheit bedient wird. Solche Menschen können nicht begreifen, dass gerade Wissenschaftler:innen ihre Meinung auch ändern. Wer das tut, ist „untreu und wird ausgestoßen“. Ihnen ist nicht bewusst, dass man sich der Wahrheit am ehesten durch die ständige Korrektur von Fehlern nähert.

  • Viele Medien moderieren in ihrem Eigeninteresse diesen Kampf um die Deutungshoheit und inszenieren die angebliche Suche nach dem Richtigen.

  • Ist die Wirklichkeit erkannt, geht es in der Regel häufig nur noch um Werte, Standpunkte, Sichtweisen und um Interessen.

  • Fakten werden je nach medialem Format für die Öffentlichkeit verzerrt oder verkürzt wiedergegeben.

  • Der Meinungskampf dominiert alles und macht Aussagen beliebig.

  • Wissenschaftliche Differenzierungen werden weggelassen.

  • Urteile und Erklärungen dienen den eigenen Interessen.

  • Unverstandenes wird für „böse“ gehalten.

  • In der Filterblase wird alles für bare Münze genommen (nach Gunter Dueck: „Filterdummheit“).

Gunter Dueck: DD386: Wahr ist nur, was ohne Interesse richtig aussieht

Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller: Vorwort. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

Mai Thi Nguyen-Kim: DIE KLEINSTE GEMEINSAME WIRKLICHKEIT. Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Mit Illustrationen von Ivonne Schulze. Droemer Verlag. München 2021.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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