Skizzenbücher als Schritte zur Freiheit
Wie die Künstlerin Françoise Gilot auf die Welt reagiert
„Ich mache gerne Notizen, wenn ich nicht im Atelier bin“, sagt die Malerin, Grafikerin und Schriftstellerin Françoise Gilot im Interview mit der Schauspielerin und Dramatikerin Thérèse Crémieux, die sowohl am französischen Theater als auch in Filmen von Robert Altman, Claude Lelouch, Laurent Heynemann und Jacques Demy zu sehen war. Die Skizzenbücher geben Aufschluss über ihre Arbeitsmethode. Sie sind in sich vollkommen: „Ich habe sie gemacht und danach war ich frei. Für mich sind diese kleinen Bücher wie Schritte zur Freiheit.“
Sie hat sie sich erarbeitet wie das Glück. Wie viele Maler hat sie auf Reisen immer ein Skizzenbuch dabei. Als sie jung war, fuhr sie gern in der Metro und zeichnete Menschen, die dort saßen - einfach, um ihre Physiognomie zu studieren. Sie sah dies als Übung, als einen Weg, den sie zurücklegen musste, um Zugang zu Kunst und Malerei zu bekommen: „Das ist ein bisschen wie bei den Japanern, die sagen, man müsse 10.000 Dinge zeichnen, ehe man eine einzige gute Zeichnung zustande bringt.“
Das erinnert auch an den Studenten Paul Valéry (1871-1945), der im Alter von 23 Jahren damit begann, sich täglich in den frühen Morgenstunden an den Schreibtisch zu setzen und in Schulheften seine Gedanken zu notieren. Mehr als fünfzig Jahre lang. Die „Cahiers“ sind Hervorbringungen, die sich der Gymnastik des Denkens, den Akten und Übungen (!) des Geistes, verdanken. Seine schriftstellerische Arbeit bestand vor allem darin, Fragmente und Notizen über die Dinge des Lebens buchstäblich ins Werk zu setzen.
In den künstlerischen Arbeiten von Thérèse Crémieux war die Wirklichkeit nicht von Relevanz.
Einige Menschen „stellen eine Blume vor sich hin, um eine Blume zu zeichnen – ich denke sie mir lieber selbst aus. So ordne ich die Blätter und Blüten an, wo ich will, während sie sonst schon an einer bestimmten Stelle platziert wird.“ Françoise Gilot wurde am 26. November 1921 im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geboren. Ihre Mutter war Aquarellmalerin, ihr Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann. 1941 nahm sie während ihres Jurastudiums heimlich Mal- und Zeichenunterricht in Paris. Als sie sich 1943 entschließt, Malerin zu werden, bricht ihre Familie den Kontakt zu ihr ab. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Reitunterricht. Im Mai 1943 lernte sie den vierzig Jahre älteren Pablo Picasso kennen und wurde kurz darauf seine Geliebte und Lebensgefährtin. Jeder kennt das Foto, auf dem Picasso schützend einen Sonnenschirm über sie hält. Zusammen hatten sie zwei Kinder: Claude und Paloma.
"Niemand verlässt einen Mann, wie mich", soll er im Streit gesagt haben. Doch sie verließ ihn nach zehn Jahren: 1953 packte die begabte Malerin, die niemals in seinem Schatten stand, ihre Koffer, und die gemeinsamen Kinder mit und ging ihren eigenen Weg: "Ohne die Malerei gäbe es mich überhaupt nicht. Es spielt gar keine Rolle, ob meine Bilder gut oder schlecht sind, ob ich als Künstlerin Erfolg habe. Ich brauche die Malerei wie andere Leute Essen und Trinken."
Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen internationalen Galerien und Museen ausgestellt sowie mit Preisen und Ehrungen ausgezeichnet. Gilot erhielt unter anderem den Ordre des Arts et Lettres und wurde zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Zu ihren Gedichtbänden und Memoiren über die Kunst des 20. Jahrhunderts zählen der Bestseller „Leben mit Picasso“ (1964) sowie „Interface: The Painter and the Mask“ (1983) und „Matisse und Picasso: Eine Künstlerfreundschaft“ (1990). Dem Maler Matisse fühlte sie sich am nächsten. Sie wohnt und arbeitet in New York.
Ihre Inspiration beginnt damit, dass sie im linken Ohr etwas hört, Farben und Worte. Dann übersetzt sie es in Zeichnung oder Malerei. Das zeigen auf beeindruckende Weise ihre drei Skizzenbücher, die auf Reisen nach Venedig, Indien und in den Senegal zwischen 1974 und 1981 entstanden sind. Im TASCHEN Verlag sind die drei gebundenen Faksimileausgaben nun erschienen. Ergänzt werden sie von einem Beiheft, das eine mit historischen Fotografien bebilderte Einführung des Buchdesigner und Herausgebers Hans Werner Holzwarth enthält, ein Gespräch der Künstlerin mit Thérèse Crémieux über ihre künstlerische Arbeit und ihre Reisen sowie Übersetzungen der handschriftlichen Texte in ihren Zeichnungen. Es sind keine Entwürfe, sondern in sich geschlossene Kunstwerke.
Schon die regelmäßigen Venedigbesuche in ihrer Kindheit hinterließen bei ihr nachhaltige Eindrücke. In ihrem 1974 entstandenen Skizzenbuch, in dem sie Worte („Klänge“) mit Farben mischt, zollt sie auch den großen Meistern der venezianischen Malerei, Bellini, Carpaccio, Giorgione, Veronese, Tizian, Tintoretto ihren Tribut. Es ist das einzige Skizzenbuch, in dem sie Wörter (diese sollte man aber nicht als solche sehen, sondern als Zeichnung) und Gedichte verwendet hat. Wörter sind für sie als Klangbild wichtig, besonders die Vokale.
Das zweite Skizzenbuch entstand auf ihrer Reise nach Indien Ende 1979. Sie zeichnete im Flugzeug – präzise mit sicherer Hand im wackeligen Flieger: „Ich hatte mehr Vertrauen in meinen Strich als in die Sicherheit des Flugzeugs.“ Die Skizzen zeigen Menschen auf der Straße, Marktstände, Kühe und andere Tiere oder Plakate. Im Mittelpunkt des Büchleins stehen Frauen in Saris, deren Faltung die Künstlerin besonders faszinierte
„Der Stoff ist ein Kokon, und in dieser latenten Metamorphose liegt der Zauber der gekrümmten Linie.“
1981 besuchte Gilot den Senegal. In ihrem Skizzenbuch hält sie Frauen in fließenden Gewändern fest, aber auch Pflanzen und Landschaften sind festgehalten. „Ich mache Zeichnungen, wie ein Huhn Eier legt!“, sagt sie im Interview mit Thérèse Crémieux. Sie malt immer noch jeden Tag. Die Malerei ist für sie ein Weg, das große Unbekannte zu erforschen: „Man muss auf die Welt reagieren, aktiv sein und nicht halbtot. Wir müssen leben, solange wir am Leben sind.“
Weiterführende Literatur:
Françoise Gilot. Three Travel Sketchbooks: Venice, India, Senegal. Von Thérèse Crémieux, Hans Werner Holzwarth. 3 Hardcover-Faksimiles mit Begleitheft in Portfoliomappe. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. TASCHEN Verlag, Köln 2018.