Prof. Dr. Anabel Ternès

Prof. Dr. Anabel Ternès

für Leadership & Zukunftskompetenz, Digitalisierung & Arbeit 4.0, Nachhaltigkeit, Gesundheitsmanagement

„Sowohl als auch – statt entweder oder“ – Das Spannungsfeld der Ambidextrie aus Sicht von zwei Zukunftsgestaltern

Was verbindet eine Direktorin für Zukunftsstrategien, Professorin und ehemalige Jugend musiziert-Pianistin und einen Vice President aus der chemischen Industrie, Mentor und ehemaligem Olympia-Ruderer miteinander? Beide setzen in ihren jeweiligen Umfeldern auf ein „sowohl als auch“ statt auf ein „entweder oder“. In diesem Text beschreiben beide Ihre jeweiligen Erfahrungen und zeigen auf, warum Ambidextrie zukünftig noch wichtiger wird als heute.

Prof. Dr. Anabel Ternès von Hattburg ist eine der führenden Köpfe für digitale Zukunft – Expertin für Digitalisierungsthemen, sozial engagierte Digitalunternehmerin und Autorin. Sie ist u.a. Verwaltungsrätin des BCCG, Vorständin des Bitkom AK Arbeit 4.0 und Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung flexible Arbeitswelt. Dazu engagiert sie sich in verschiedenen sozialen Organisationen, darunter als Kuratorin für PLAN. Als CEO von GetYourWings und der Deutschen Initiative Gesunde Digitalisierung entwickelt sie digitale Tools zur Vermittlung von Digitalkompetenzen. Anabel Ternès leitet das Institut für Nachhaltigkeitsmanagement, hält eine Professur für Internationale BWL, sowie Kommunikationsmanagement und ist Director Future Strategy bei der SRH. Die Autorin von mehr als 50 Büchern schreibt u. a. für Focus, Impulse und Sales Excellence. Sie war mehrere Jahre in leitender Tätigkeit in internationalen Unternehmen, darunter für Samsonite und Fielmann.

Dr. Colin von Ettingshausen ist Executive mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der chemischen Industrie, zuletzt als kaufm. Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der BASF Schwarzheide GmbH. Seine Themenschwerpunkte beinhalten vielfältige strategische Transformations- und Weiterentwicklungs-Prozesse. Er ist Wegbereiter für ganzheitliche Digitalisierung und Protagonist für nachhaltige Unternehmensführung. Sein Werdegang verlief über Stationen in Deutschland, Japan, Österreich, Polen und Südafrika. In Dortmund, Oxford und Plymouth (UK) absolvierte er seine akademische Laufbahn. Colin von Ettingshausen wurde 1993 Weltmeister im Deutschlandachter und gewann 1992 bei den Olympischen Spielen von Barcelona die Silbermedaille im Männerzweier ohne Steuermann. Heute ist er u.a. Mentor in der Wertestiftung für Athleten*innen der Deutschen Sporthilfe.

Der Klimawandel, die Änderungen der geopolitischen Machtverhältnisse, die Strukturveränderungen durch Digitalisierung oder die Migrationsbewegungen erzeugen Umbrüche mit großen Ausmaßen. Gleichzeitig wird die Welt immer unbeständiger, ungewisser, komplexer und mehrdeutiger. Hinzu kommt aktuell die Bewältigung der Corona-Krise.

Diese und andere radikale Veränderungen führen zu weiteren Mega-Trends in den Abnehmerbranchen. Der Fokus auf Ökologie & Nachhaltigkeit erfordert Innovationen, um Industrien zukunftsfähig zu machen. Digitalisierung ermöglicht neue Arbeitsweisen, die definiert werden wollen. Der Anspruch an Ethik & Moral erfordert Verantwortungsbewusstsein auf allen Ebenen der Gesellschaft mit entsprechenden Auswirkungen auf Lieferketten und Globalisierung. Der Demografische Wandel und die Urbanisierung verlangen nicht nur nach neuen Konzepten zur Fachkräftesicherung, sondern auch ganz neuen Lebenskonzepte.

Jedes Unternehmen muss sich in Anbetracht dieser massiven Veränderungen fragen, mit welchem „Betriebssystem“ kurz-, mittel- und langfristig der gewünschte Erfolg sichergestellt werden soll. Bei dieser neuen Vielschichtigkeit der Herausforderungen führen bisherige Organisationsformen allein nicht mehr zum Ziel. Sie waren geprägt durch Steuerung von der Spitze einer Organisation und entsprechender Ausführungen in den Organisationsteilen darunter.

Bewährt haben sich Führung und Zusammenarbeit in diesem Betriebssystem in stabilen Umfeldern, bei denen nach einer definierten Prozessbeschreibung mit vorgefassten Rollen und Verantwortlichkeiten bestimmte Arbeitsergebnisse erzielt werden sollen. Das ist beispielsweise in Sicherheitsorganisationen wie einem Produktionsbetrieb, einem Flughafen oder einem Krankenhaus der Fall. Agile Abweichungen von vorgegeben Verfahren könnten hier in Katastrophen enden.

Eine hierarchisch gesteuerte Organisation kommt hingegen schnell an ihre Grenzen, sobald die Kundenanforderungen oder Prozesse nicht von Anfang an klar definiert sind. Ihr Schwerpunkt liegt eindeutig auf Steigerung der Effizienz bestehender Produkte und Dienstleistungen. Wirkliche Innovationen sind entlang eingefahrener Arbeitsweisen klassischer Organisationen schwer möglich.

Die Entwicklung völlig neuer Geschäftsmodelle erfordert jedoch ganz andere Herangehensweisen als die Optimierung des bestehenden Geschäftes. Daraus kann ein internes Spannungsfeld entstehen, das im schlimmsten Fall sowohl das bestehende als auch zukünftige Geschäftsmodelle gefährden könnte.

Ein solches Spannungsfeld muss unabhängig von der Unternehmensform über geeignete Führung und Zusammenarbeit abgebildet werden. Hier kommt die Ambidextrie ins Spiel. Ambidextrie beinhaltet die Optimierung des bestehenden Geschäftes (Exploitation) bei gleichzeitiger Entwicklung neuer Geschäftsmodelle (Exploration).

Dafür ist zusätzlich zum klassischen Betriebssystem eine agile Organisationsform nötig. Agile Organisationsformen unterscheiden sich von den klassischen in der Zusammensetzung ihrer Teams (Vielfalt, Interdisziplinarität), in ihrer Arbeitsweise (Vernetzung, Entscheidungsfindung) sowie in der Art und Weise der Führung (demokratisiert, wechselnd). Nur so können komplexe Themen gelöst werden, die in der Herangehensweise anders behandelt werden wollen als komplizierte Themen.

Für Führungskräfte bedeuten unterschiedliche Organisationsformen, dass sie völlig verschiedene Verhaltensweisen an den Tag legen müssen, um sowohl in klassischen als auch in agilen Umfeldern erfolgreich zu sein. Dazu gehört auch ein entsprechendes Team zu formen, das mit Diskontinuitäten und Paradoxien genauso gut umgehen kann wie ihre Führungskraft selbst. Ansonsten können Schattenorganisationen oder überforderte Organisationen entstehen.

Weitere Spannungsfelder können aufkommen. Ein Start-Up Unternehmen ist per se erst einmal mit der Eroberung neuer Geschäftsfelder beschäftigt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird es dann nötig, die neuen Geschäftsmodelle zu verstetigen und in ein anderes Organisationsmodell zu überführen. Dies muss mit entsprechendem Change-Management optimal begleitet werden.

Für einen Konzern liegt die Herausforderung darin, den Teil der Organisation, der mit Exploration beauftragt ist, jederzeit integrationsfähig in den klassischen Teil der Organisation zu halten. Für den erfolgreichen Skalierungs-Prozess bei Marktreife eines neuen Produktes ist dies eine der Grundvoraussetzungen. Sobald der Skalierungsprozess eine gewisse Reife hat, wird er in die klassische Organistation überführt bzw. wird selbst zum Kerngeschäft und damit Fundament für zukünftige neue Geschäftsfelder.

Ebenso wichtig für den Erfolg der Exploration im Konzernumfeld sind die Freiheitsgrade die nötig sind, um bahnbrechende Innovationen zu erzielen. Das bedeutet für bestehende Geschäftseinheiten, sich bei der Einflussnahme auf Entscheidungen entsprechend zurückzuhalten, ansonsten scheitert die Ambidextrie bereits im Keim.

Im klassischen Mittelstand wiederrum liegen die Optimierung des Kerngeschäftes und die Entwicklung völlig neuer Geschäftsmodelle oft so nahe beieinander, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen ineinander aufgehen und somit im Durchschnitt nicht mehr zum Ziel führen. Auch können der Ambidextrie im Mittelstand patriarchisch ausgeprägte Führungs- und Entscheidungsprozesse entgegenstehen.

Für beide Betriebssysteme, dem klassischen und dem agilen, ist die richtige Unternehmenskultur nötig. Bestimmte Werte dieser Kultur sind für beide Betriebssysteme relevant. Wertschätzung, Respekt, Offenheit, Ehrlichkeit, Einbeziehung der Mitarbeiter etc. gehören in die DNA eines jeden Unternehmens, unabhängig von der Organisationsform.

Der Unternehmenszweck ist für beide Organisationsformen Dreh- und Angelpunkt, weil dieser selbst bei größten Widersprüchen einen Kompass für alle Formen von Organisation gibt und somit Menschen auf einen bestimmten Zweck vereint, auf den sich alle immer wieder besinnen können.

Es gibt jedoch auch Unterscheidungsmerkmale. In klassischen Organisationen sind top-down Ziel- und Budget-Vorgaben erforderlich. Kontrolle hat dort eher die Ausprägung einer Wirkungskontrolle und Überwachung. In agilen Organisationen sind die Handlungsspielräume für alle Beteiligten wesentlich größer. Ebenso besteht eine stark ausgeprägte Lernkultur. Kontrolle ist hier als Selbstkontrolle zu verstehen.

Die aktuelle Corona-Krise verstärkt diese Unterscheidungsmerkmale. Die Sicherheit und Genauigkeit von vordefinierten Prozessen darf auch unter den gegebenen Umständen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Für die Lösung möglicher Herausforderungen unter den gegebenen Umständen können wiederum agile Organisationen wichtige Beiträge leisten.

Anstatt über rationale Entscheidungsprozesse und einer limitierten Anzahl von Einzelpersonen Lösungen zu erarbeiten sind Co-Creation in einem Netzwerk von internen und externen Partnern wesentlich erfolgsversprechender. Die radikalen Innovationen werden in Zusammenarbeit mit externen Partnern entstehen. Beispielhaft dafür seien Inkubatoren oder strategische Beteiligungen genannt.

Somit erweist sich Beidhändigkeit als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck. Unternehmen werden in der heutigen Zeit quasi gezwungen sich beidhändig aufzustellen. Im Idealfall jedoch haben Unternehmen für sich bereits die Vorteile einer Beidhändigkeit verinnerlicht und setzen sie je nach Kundenanforderungen entsprechend ein.

Ob oder wie sehr die beiden Organisationsformen voneinander getrennt sind, hängt von den Synergien der beiden Organisationen in Querschnittsfunktionen wie Finanzen oder Human Resources ab. Es macht sicher wenig Sinn für eine der beiden Organisationsformen Dienstleistungen extern zu beziehen, wenn sie in gleicher Ausprägung intern schon verfügbar sind.

Neben den genannten Vorteilen und Eigenschaften birgt die Ambidextrie einen weiteren sehr entscheidenden Vorteil für das Unternehmen. Ambidextrie erweitert den Denk- und Handlungshorizont des Unternehmens und jedes einzelnen. Dies wiederum ermöglicht Formen und Inhalte von lebenslangem Lernen, die anderweitig verschlossen blieben.

Die Optimierung des bestehenden Geschäftes wird zukünftige noch weniger die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens sichern, als sie es heute schon tut. Ambidextrie ist deshalb eine Frage des „Wann“ und keine Frage des „Ob“. Diejenigen Unternehmen die sich bereits auf diesen Weg begeben haben, werden erfolgreicher aus der Corona-Krise hervorgehen als diejenigen, die noch darüber nachdenken.

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Zukunftsfähige Unternehmen brauchen Nachhaltigkeit, gesunde Digitalisierung und Zukunftskompetenzen. Eine zukunftsfähige Welt braucht ein gesamtsystemisches Zusammenwirken aller Kräfte. Als eine der führenden Köpfe für Digitalisierung stehe ich für Nachhaltigkeit und verantwortungsvolle Handeln.
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