Verrückt, jetzt sollen Bewerber auch noch authentisch sein
Als wären Bewerbungsgespräche nicht schon stressig genug, jetzt sollen Bewerber auch noch sie selbst sein. Authentizität ist das neue Auswahlkriterium. Warum der Wunsch nach authentischen Bewerbern verrückt ist und was Arbeitgeber und Bewerber stattdessen wieder echt näher bringt.
Neulich las ich, dass sich die Geschäftsführerin eines mittelständischen Unternehmens wünscht, dass Bewerber sie im Gespräch mit ihrer "Authentizität und Natürlichkeit überzeugen". Sie ist hiermit nicht allein, auch in den Statements vieler Personalentscheider großer Konzerne ist Authentizität zur geflügelten Worthülse und zum Erfolgsrezept im Bewerbungsprozess geworden.
Bewerber sollen sich nicht verstellen, sondern einfach so sein, wie sie sind. Statt einstudiertem Händedruck, auswendig gelernter Selbstpräsentation und Kontrolle ihrer Körpersprache mögen sie sich doch lieber echt geben. Schließlich sei es für Arbeitgeber nur so möglich, einen Menschen wirklich so kennenzulernen und zu beurteilen, wie er sich später als Mitarbeiter verhalten wird.
Dass Sie als Bewerber die vielen Experten-Tipps und Tricks rund um Kommunikation und Körpersprache getrost vergessen können, ist schon lange mein Reden (hier, hier, und hier). Doch der Tipp, bei Ihrem nächsten Vorstellungsgespräch einfach authentisch zu sein, ist nicht nur leichter gesagt, als getan, sondern auch nicht zielführend, um aus Bewerbungsgesprächen wieder echte Dialoge auf Augenhöhe zu machen.
Authentisch bin ich Zuhause auf dem Sofa
Ich schreibe diese Zeilen während der Bahnfahrt von Hamburg zurück nach Köln. Ich sitze an einem Vierertisch, ab und zu kreuzen sich unsere Blicke. Ein bisschen Small-Talk, gemeinsames Lächeln über die Ansagen des Zugführers, dann schreibe ich weiter. Ich frage mich, ob ich gerade wohl authentisch bin? - Hm, wahrscheinlich nicht so richtig.
In Hamburg war ich zu Gast bei XING und wir haben neue Folgen für den XING Talk aufgezeichnet. Die Interviews haben mir sehr viel Freude gemacht, ich fühlte mich gut und entspannt, doch war ich mit Schminke im Gesicht, verkabelt und vor drei laufenden Kameras im grellen Scheinwerferlicht authentisch? - Sie und ich werden es bald sehen.
Oft höre ich nach Vorträgen, dass ich sehr authentisch wirke. Nun ja, ich sage keine von Autoren geschriebenen und auswendig gelernten Texte auf und keiner meiner Schritte auf der Bühne ist einstudiert. Zuhörer sehen mir vermutlich jede Emotion an, ich kann über Versprecher öffentlich lachen und ich spreche oft spontan aus, was mir gerade durch den Kopf geht. Ich bin bei mir und nehme mein Umfeld wahr. Doch dass ich als Redner bin, wie ich wirklich bin, das würde ich nicht unterschreiben. Authentizität liegt natürlich auch im Auge des Betrachters.
Ich glaube, dass ich während meiner Coachings mit Klienten bei mir im Büro inzwischen ziemlich authentisch bin und ich bin mir sogar sehr sicher, dass ich abends im Kapuzenpulli auf dem heimischen Sofa voll und ganz ich selbst bin.
Es ist spannend, darüber nachzudenken, wann ich selbst das Gefühl habe, authentisch zu sein und welchen Rahmen ich hierfür benötige. Wo und in welchen Momenten können Sie über sich selbst sagen, dass Sie authentisch waren oder es heute sind?
Authentizität ist das Vertrauen, ich selbst sein zu dürfen
Was ist es, was diese Situationen ausmacht? Wir verhalten uns eher echt, wenn wir uns sicher, wohl und geborgen fühlen. In vertrauter Umgebung, mit Menschen, denen wir vertrauen und bei Tätigkeiten, die uns sehr vertraut sind. Dann, wenn Können und Erfahrung uns Sicherheit geben und wir wissen, einer Situation bestens gewachsen zu sein.
Authentizität ist das Vertrauen, ich selbst sein zu dürfen. Mich nicht zu verstellen, die Erwartungen anderer erfüllen oder einem bestimmten Fremdbild gerecht werden zu müssen. Zu denken und zu handeln, wie es meiner Persönlichkeit, Erziehung, Erfahrung sowie den persönlichen Bedürfnissen, Zielen und Wertevorstellungen entspricht. Das aussprechen zu können, was mir in diesem Moment wirklich wichtig ist und mich so zu verhalten, wie ich es für richtig halte. Dabei frage ich mich: Wäre ich so überhaupt noch sozial kompatibel? Und was bedeutet dies für die Rolle eines Bewerbers?
Bewerber, sei authentisch! Bitte. Jetzt.
Sicherlich möchten Bewerber gefallen, Erwartungen erfüllen und dem Bild entsprechen, das ein Arbeitgeber von seinem neuen Mitarbeiter hat. Kein Bewerber kommt freiwillig auf die Idee, Recruitern oder künftigen Chefs gegenüber alles das auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf schießt. Und natürlich passen sich Bewerber im Vorstellungsgespräch ein Stück weit ihrem künftigen Arbeitsumfeld an, wenn es um Kleidung, Wortwahl und Körpersprache geht.
Auf der anderen Seite ist es selbstverständlich das Ziel jedes Arbeitgebers, im Bewerbungsgespräch so viel wie möglich über einen potenziellen Mitarbeiter, seine Qualifikation, Erfahrung, Motivation und auch seine Persönlichkeit in Erfahrung zu bringen. Es geht um die Beurteilung einer Passung im Vergleich unterschiedlicher Kandidaten. Wer kann die Anforderungen an eine Position am besten erfüllen, welche Entwicklungspotenziale sind vorhanden und wie gut passt sie oder er zum Chef, in das bestehende Team und zur Unternehmenskultur?
"Bewerber, zeigt Kante!", darum geht es in allen meinen Bewerbungs-Coachings. Denn wer sich als Jobwechsler greifbar macht, hat eindeutig die besseren Chancen. Doch Profil zu zeigen, klar zu sein und sich als Bewerber greifbar zu machen darf nicht mit Authentizität verwechselt werden. Denn Authentizität erfordert einen Rahmen, den Bewerbungsgespräche - zumindest heute - nicht bieten.
Authentizität von Bewerbern ist keine Bringschuld
Wer als Arbeitgeber von Bewerbern verlangt, mit Authentizität zu überzeugen, der ist weit entfernt von echtem Interesse anderen Menschen gegenüber und einer Haltung auf Augenhöhe.
Es ist bequem, als Arbeitgeber die Verantwortung abzugeben und mehr Echtheit auf Bewerberseite einzufordern: "Lieber Bewerber, bitte sei authentisch, damit wir eine gute Entscheidung treffen können."
Doch wie authentisch verhalten sich eigentlich Personaler, wenn sie dem Recruiting Standardprozess folgend stur Fragebögen abarbeiten, sich vor allem auf nachgewiesene Abschlüsse und Qualifikationen stürzen, die berufliche Vergangenheit detektivisch durchleuchten, Inhalt vor Beziehung geht und am Ende maximal ein kühles "Vielen Dank, wir melden uns bei Ihnen" übrig bleibt?
Ich kann Bewerber verstehen, die in dieser außergewöhnlichen Situation nicht das Vertrauen aufbringen, sich wirklich zu öffnen. Denn wer sich öffnet, macht sich verletzbar.
Vertrauen ist ein Vorschussgeschäft. Arbeitgeber, die sich von Bewerbern heute mehr Authentizität wünschen, stehen in der Verantwortung, echtes Vertrauen aufzubauen.
Doch solange Bewerber weiterhin solche Erfahrungen sammeln, die HR-Entscheider als fiese Fangfragensteller, strenge Prüfer und Job Verhinderer erscheinen lassen, werden Vertrauen und damit auch Offenheit von Bewerbern weiterhin auf der Strecke bleiben.
Echte Klarheit statt echt authentisches Schauspiel
Authentizität bei Bewerbern lässt sich nicht verordnen. Es gibt ihn nicht, diesen einen Knopf, den wir nur drücken müssen, um in jedweder Situation einfach authentisch zu sein.
Wem es jedoch als Arbeitgeber gelingt, im Vorfeld und während des Bewerbungsgespräches eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle Beteiligten öffnen können und wirklich sämtliche Themen einen Platz haben dürfen, die für beide Seiten und ihre zukünftige Zusammenarbeit wichtig sind, erst dann wird die Schauspielerei ein Ende haben und stattdessen mehr Offenheit und Klarheit in Vorstellungsgesprächen gelebt werden können.
Wer heute Authentizität zu seinem Auswahlkriterium für neue Mitarbeiter erklärt, jedoch an der eigenen Haltung als Arbeitgeber nichts verändert, der wird morgen vor Bewerbern sitzen, die gelernt haben, Authentizität zu spielen und damit noch viel echter unecht sind.
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Was ist Ihre Meinung? Was denken Sie als HR-Entscheider, Führungskraft oder als Bewerber über den Wunsch nach mehr Authentizität im Bewerbungsgespräch? Ich bin gespannt auf Ihre Kommentare und freue mich, wenn Sie den Artikel in Ihrem Netzwerk teilen und mir als XING Insider folgen.
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