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„Vielleicht schöpft Ihr Mut …“

Henry N. Brown wird am 16. Juli 1921 als Teddybär geboren. Er erblickt das Licht der Welt, als ihm das zweite Auge angenäht wird. „Ich habe Henry an einem dunklen Dezembernachmittag kurz vor der Jahrtausendwende in einem winzigen Laden in Wien entdeckt: Mitten unter Puppen und anderem Spielzeug saß er in dem kleinen Schaufenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Seinen Kopf hielt er ein bisschen schief, als sei er schon etwas müde“, schreibt der Verleger Johannes Thiele. Das „N.“ in seinem Namen steht für die schwer zu definierende Farbe seines Fells: „Henry nearly Brown – Henry Fast Braun“.

Henrys unglaubliche Geschichte gelangte zu Anne H. Bubenzer, wie der Bär zu seinen Besitzern kam: durch eine Verkettung von Umständen. Thiele erzählte ihr eines Tages von Henry, der ihn Wichtiges über den Sinn des Lebens und das Geheimnis der Liebe lehrte:

Diesem Bären fehlte die Stimme, sich mitzuteilen. So fragte der Verleger die Autorin, ob sie sich vorstellen könne, diese Stimme zu sein und aus Henrys Leben zu erzählen. „Wenn einem ein Teddybär wie Henry so vertrauensvoll in den Schoß gelegt wird, weist man ihn nicht zurück. Das wäre, als nähme man ein Kind nicht an der Hand, wenn es darum bittet“, sagt sie. Das Berührende an seiner Geschichte ist „seine fast unmenschliche Menschlichkeit, sein unverrückbarer Glaube an das Gute und die Liebe, was man zuweilen als naiv empfindet und worum man ihn dennoch beneidet“.

Henrys Lebensweg im Buch ist von Bubenzer zwar erfunden, doch beruhen viele Details in den Geschichten seiner Begleiter auf "wahren" Begebenheiten, weil jede/r Schriftsteller/in immer auch aus seinem eigenen Erfahrungs- und Lebensschatz schöpft und „Gehörtes, Gesehenes und Erlebtes fiktionalisiert“. So gehen Friedrichs Briefe an seine Frau auf Briefe zurück, die der Großvater von Anne H. Bubenzer an ihre Großmutter schrieb, als er in Norwegen stationiert war. Geboren 1973 in Hüttental/Siegen, studierte die Autorin in Freiburg/Breisgau und Oslo Skandinavistik, Anglistik und Germanistik und war mehrere Jahre als Lektorin in Publikumsverlagen tätig. Sie lebt heute in Hamburg, wo sie als freie Autorin und Übersetzerin arbeitet.

Das Buch ist für sie mehr als die „Unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown“, denn es spiegelt das Leben in all seinen Facetten wider. Beim Schreiben von Henrys Geschichte ging es ihr besonders darum, in ihm einen „Beobachter der Menschen gefunden zu haben, der eine Sicht auf Dinge, Ereignisse und Beziehungen erlaubt, die ein Mensch niemals haben könnte. Er kann sich die Freiheit nehmen, Dinge in Frage zu stellen, die niemand mehr in Frage stellt, er kann bewerten, beurteilen und sich wundern über das merkwürdige Treiben der Leute. Ja, wenn man es genau nimmt, geht es in diesem Buch vielleicht sogar eher um die Menschen als um den Teddy selbst, denn durch sie wird Henry wirklich zu einer interessanten Figur, zu einem Reflektor“.

Für die Autorin ist Henry, der das Alter sowohl von außen als auch von innen erfährt, von allem etwas: ein bisschen weise, ein bisschen zynisch und ein bisschen resigniert und doch voller Hoffnung. Seine vermutlich größte Sorge erfährt er im Alter: „Nicht mehr gebraucht zu werden, obwohl man noch so viel zu geben hätte.“ Allerdings sorgt die Schriftstellerin im Buch dafür, dass Henry, „wenn auch nicht als Kuscheltier, wohl aber als Zeitzeuge und erfahrener Berater nicht in Vergessenheit gerät.“ Das spiegelt zugleich unsere Verantwortung älteren Menschen gegenüber. Sie sind wie Henry die Schatzmeister ihres eigenen Lebens, das sich äußerlich nicht mehr wie in jungen Jahren einfach bewegen lässt.

Vieles ist verinnerlicht, auch die Freude, die bei Henry mit Gelassenheit einhergeht. Er ist ganz bei sich: „Mein Leben geschieht, ob ich mir nun Sorgen mache oder nicht. Ich bin ein Bär. Ich kann nie etwas am Ausgang der Dinge ändern. Fest steht aber, dass ich bis jetzt noch immer überlebt habe. Der Mensch sorgt sich immer als Erstes um sich selbst und glaubt, er könne den Lauf der Dinge beeinflussen. Und dann stirbt er doch. Darin liegt wohl der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Bär.“

Zeitnot an sich gibt es nicht, sie ist eine Ausprägung der modernen Industriegesellschaft: „Das habe ich in den letzten Jahren gelernt: Alles muss schnell gehen, einen Effekt haben und diesen nach Möglichkeit vollautomatisch.“ Henry dagegen erkennt, dass die Zeit wie ein spielendes Kind ist, frei von äußeren Zwängen. Hauptmotiv des Buches ist die wahre Liebe, die zuweilen blind sein, aber auch stark und klug machen kann. Wo sie fehlt, breitet sich Hass aus. Für Henry N. Brown ist sie der „Motor, der Menschen in Bewegung hält“, „eine Sprache, in der ohne Worte alles gesagt werden kann“, die „all das Menschliche verkraftet, was bei der Trauung mit guten und bösen Tagen bezeichnet wird.“

Die Liebe trug Henry N. Brown leibhaftig in seiner Brust - im Flughafen Wien, als er vom Zoll durchleuchtet wurde und ein „merkwürdiger“ Gegenstand auf dem Bildschirm zum Vor-Schein kam, dachte er: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es überlebe, wenn man mir die Brust aufschneidet und die Liebe herausnimmt.“ Als die Geschäftsführerinnen eines deutschen Teddy-Unternehmens davon hörten, entschieden sie sich, „ihrem“ Bären der zweiten Generation ein goldenes Herz einzusetzen. Die Bestimmung des Bären ist es, ein Menschenfreund zu sein. „Für mich waren die Menschen in den Häusern wichtiger als die Bauwerke, die sie umgaben“, sagt Henry.

In seiner Brust war „die Liebe, sonst nichts.“ Sie kann nicht erworben, sondern nur verschenkt werden. Teddys sind gute Zuhörer. Sie verschließen das, was ihnen gesagt wird, tief und fest in ihrem Herzen und sind Geschichtenerzähler, wenn man genau hinhört. Sie verbinden Schwarzseher und Hellseher, Gewinner und Verlierer. Und zeigen uns, was uns fehlt und was wir ersehnen. Henry ist ein Stellvertreter der Liebe, die niemals etwas anderes darstellt, als sie ist. Er gibt den Menschen Herznahrung. Seine Botschaft an die Menschen kann nachhaltiger nicht sein: „Kommt und holt mich. Schaut euch die Liebe an, die mein Leben bestimmt hat. Haltet sie in euren Händen und fühlt, wie sie pulsiert. Vielleicht hilft es euch. Vielleicht erweckt es in euch den Glauben an das Gute zu neuem Leben. Vielleicht schöpft Ihr Mut.“

Die unglaubliche Geschichte von Henry N. Brown. Erzählt von Anna H. Bubenzer. Thiele & Brandstätter Verlag, München 2008.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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