Trauer in Podsdam: Nachdem mehrfachen Mord an Menschen mit Behinderung zeigt sich, was alles nicht stimmt - GettyImages/Maja Hitij

Vier Menschen sind tot - und was das mit uns macht

In Potsdam sind fünf Menschen mit Behinderung Opfer einer Tötungsserie in einer sogenannten Behinderteneinrichtung geworden – vier von ihnen starben. Darum will ich dazu nicht schweigen! Eine System- wie Medienkritik von Raul Krauthausen.

Während die Hintergründe der Tat noch untersucht werden müssen, stellt sich Raúl Krauthausen (nicht erst seit heute) Fragen zu strukturellen Problemen dieser Wohnformen und wie viel Ableismus* in ihnen steckt.

Ein Mensch hat in Potsdam fünf Menschen angegriffen und vier davon in ihrem Zuhause, einer Behinderteneinrichtung, getötet. Ich bin darüber unheimlich traurig und entsetzt. Allen Angehörigen, und Freund*innen der Getöteten und Verletzten möchte ich mein aufrichtiges Mitgefühl ausdrücken. Die Gründe dieser Gewalttat liegen noch im Dunkeln, die Polizei ermittelt gegen eine Pflegekraft. Die Frage nach den Strukturen der Umgebung einer solchen Tat drängt sich jedoch schon jetzt auf.

Die Opfer lebten schon seit vielen Jahren in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Statt über die Opfer mit Behinderung zu sprechen, lag aber das Augenmerk des Oberbürgermeisters der Stadt Potsdam Mike Schubert in seinem Statement bei der „aufopferungsvollen Pflege“ in dieser Einrichtung, und die Leiterin betonte, dass die Mitarbeiter*innen „außerordentlich engagiert“ seien. Wenn es um die Arbeit mit Menschen mit Behinderung geht, benutzen Menschen ohne Behinderung rasch paternalistische Superlative – als wäre es eine Art „Mission Impossible” und keine Dienstleistung. Es wird fast ausschließlich über sie gesprochen, und nicht mit ihnen. Polizei, Politik, Pflegepersonal, Pfarrer. Dabei hat unser Mitgefühl den Betroffenen, Angehörigen und Nahestehenden nach dieser schrecklichen Tat zu gelten. Gerade den Betroffenen sollten wir zuhören. Da braucht es angesichts dieser Schmerzen keine kraftvollen bis bevormundenden Begriffe und Ausschlüsse von sog. “Expert*innen”. Die Diskussion darum, wie wenig Personal in diesen Einrichtungen arbeitet und wie schlecht die Bezahlung ist, ist vorhersehbar. Beides stimmt und ist beklagenswert, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Als Erklärung für diese Mehrfachtötung wird diese schlechten Rahmenbedingungen niemand angeben wollen, aber: Warum wird im Zusammenhang von Gewalttaten in Pflege- und Wohnheimen immer dieser Punkt erwähnt?

Nach jeder Tat wird versucht ein Motiv zu finden, und auch in diesem Fall werden in den nächsten Tagen sicher Vermutungen angestellt, sofern sich der*die Täter*in nicht äußert. Im Gegensatz zu anderen Fällen wird bei solchen Taten oft die „Überlastung” ins Spiel gebracht. So vermutet ein Polizeipsychologe in der rbb Sendung „Zibb“, dass das Tatmotiv auch „Erlösung von Leiden“ gewesen sein könnte. Damit entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr: weil die Bewohner*innen des Heimes wohl zu anstrengend seien, käme es zur Überlastung und damit zu der Tat. Dass diese Argumentation bemüht werden wird, ist meine größte Sorge. Denn dies ist gefährlicher, und in diesem Fall tödlicher Ableismus: Die Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen.

Von Einzelfällen in einer Struktur

Noch einmal: Natürlich handelt es sich bei der Potsdamer Gewalttat um eine sogenannte Einzeltat und Spekulationen sind deplatziert, auch über die psychische Gesundheit der Tatverdächtigen, die sich inzwischen in einer Spezialklinik befindet. Aber immer wieder gibt es in Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung Fälle von Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und Beleidigung. Dabei geht es nicht um Einzelfälle, es geht um eine diskriminierende Struktur, die in diesem Fall sogar viermal tödlich war. Kommen solche Fälle ans Tageslicht, ist dann stets von „Einzelfällen“ die Rede. Diese aber fügen sich zusammen zu einer Struktur. Denn diese Heime sind “totale Institutionen”. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt. Menschen mit Behinderung bekommen oft von Geburt an kaum eine Option, aus diesem System herauszukommen: Vom Internat zur Förderschule, dann Wechsel in ein anderes Wohnheim und von dort zur Werkstatt; später dann ins Altenheim, nicht selten finden sich all diese Adressen auf einem einzigen Gelände, wie auch beim Oberlinhaus, wieder. Und selten gelangen Informationen über Missstände von drinnen nach draußen an die Öffentlichkeit.

Strukturelle Exklusion

Es handelt sich also um Sonderwelten, um Parallelgesellschaften. Sie trennen. Sie schaffen angesichts mangelnder Selbstbestimmung und fast totaler Abhängigkeit ein Klima, in dem Gewalt leichter entstehen kann als anderswo. Ob diese „Einrichtungen“ immer das Richtige für Menschen sind, die dort nur landen, weil sie mit einer Behinderung leben, dahinter muss ein riesiges Fragezeichen gesetzt werden. Nur um eine Zahl zu nennen: Laut einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012 wurden mindestens sechs Prozent aller behinderten Frauen, die in Heimen und Werkstätten „untergebracht“ wurden, sexuell missbraucht. Und erst im Januar dieses Jahres wurde bekannt, dass gegen 145 Beschäftigte einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen wegen Verdachts auf Freiheitsberaubung und in einigen Fällen auf Körperverletzung ermittelt wird. 145 ist eine Zahl, die mit der Beschreibung „Einzelfall“ nicht mehr zu erklären ist. Da hilft es übrigens nicht, wenn Medien die Opfer solcher Angriffe als “besonders Schutzlose” oder als “Schwächste” beschreiben – damit wird Menschen mit Behinderung ihr so genannter Opferstatus noch einmal obendrauf serviert. Statt einer Spaltung in IHR und WIR fehlt es an einer realistischen Bestandsaufnahme ohne verklärenden Blick dem zur Verfügung stellen präventiver (inklusiver?) Strukturen.

Was das alles mit dem Ereignis von Potsdam zu tun hat? Solche Einrichtungen bergen strukturell gesehen ein Potenzial für Ungutes. Daher müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie es für Menschen mit Behinderung andere Perspektiven geben kann. Wie Ableismus besser bekämpft werden kann. Und wie wir es schaffen, in Tagen wie diesen den Fokus auf die Opfer zu richten.

Dieser Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst auf DieNeueNorm.de erschienen. Hier der Direktlink zum Artikel.

Raul Krauthausen schreibt über Inklusion, Barrierefreiheit

Ich engagiere mich bei www.sozialhelden.de und betreue dort Projekte wie die www.wheelmap.org und www.leidmedien.de. Seit 2015 moderiere ich mit „KRAUTHAUSEN – face to face“ (http://krauthausen.tv/) eine eigene Talksendung zu den Themen Kultur und Inklusion auf Sport1.

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