Visueller Journalismus: Wie uns Infografiken helfen, die Welt besser zu verstehen
Die Kunst des Weglassens
Die Reduktion komplexer Sachverhalte auf wenige entscheidende Faktoren beschäftigt die großen Denker bereits seit Jahrtausenden. Die Aussage „entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“ (man solle sich in Erklärungsmodellen auf möglichst wenige Faktoren beschränken) wird dem englischen Scholastiker Wilhelm von Ockham zugeschrieben. Seine Maxime aus dem 14. Jahrhundert findet sich im bildhaften Ausdruck von Ockhams Rasiermesser: Suche das Wesentliche und schneide alles andere mit dem Rasiermesser ab. Dazu braucht es allerdings die Fähigkeit der Mustererkennung, aus einer Vielzahl von Informationen die wesentlichen Elemente herauszufiltern. Sie ist besonders wichtig für Wissenschaftler, Ärzte, Führungskräfte, Manager und Künstler. Je komplexer ein Problem, desto vielfältiger sind die Quellen. Eine Lageanalyse ist für alle unerlässlich. Sie umfasst drei Schritte:
Sammlung von Fakten
Strukturierung der Fakten
Interpretation der Fakten.
Mit dem Erscheinen des neuen Magazins „Focus“ 1993 kamen die ersten Infografiken in Deutschland auf. Das Heft setzte verstärkt auf den Einsatz von Karten sowie Torten- und Balkendiagrammen und war mit dem Motto: „Fakten, Fakten, Fakten“. Infografiken kommen in fast allen Lebensbereichen vor, geben Orientierung (Navigation) und Überblick (Pläne, Tabellen). In einer von digitalen Datensätzen geprägten Welt, in der sich Nachrichten rasant verbreiten, sind sie besonders beliebt, denn sie können dazu beitragen, Komplexität auf einen Blick verständlich zu machen. Seit vielen Jahren entstehen neue Darstellungsmöglichkeiten und technische Werkzeuge in diesem Bereich. Eingängig und visuell werden heute Themengebiete mithilfe von Infografiken beispielsweise in Factbooks bis hin zur wissenschaftlichen Auswertung und Aufbereitung von Unternehmensgeschichten aufbereitet. Auch 3D-Videos werden häufig von mehreren Infografiken flankiert.
Infografiken haben eine lange Tradition.
Die Informationsvisualisierung ist allerdings nicht erst durch die Digitalisierung zu einer eigenen Kulturtechnik herangereift, sondern sehr alt (mesopotamische Rechentafeln in Keilschrift, in Stein gemeißelte Karten). Der spezifische Begriff „Informationsgrafik“ bezieht sich ursprünglich auf Arbeiten, die als Druckgrafiken verbreitet wurden. Über Jahrhunderte waren gedruckte Holzschnitte, Radierungen oder Lithografien in der westlichen Kultur das dominierende Medium für Werke der Informationsvisualisierung. Diese Dominanz ist möglicherweise auch ein Grund dafür, dass das verkürzte Wort „Infografik“ noch immer als allgemeine Gattungsbezeichnung für vielfältige statische Informationsvisualisierungen gebraucht wird.
Jan Schwochow blickt auf rund 30 Jahre Erfahrung als Infografiker, Designer und Journalist zurück. Als er Anfang der 1990er-Jahre beim Hamburger Magazin „Stern“ zu arbeiten begann (zuletzt war er hier Ressortleiter und Artdirector der Infografik-Abteilung), gab es dort weder Computer, noch existierte der Begriff „Infografik“. Neben seinem Studium arbeitete er hier zunächst als Aushilfe. Vom Grafiklabor kam er über die Abteilung „Stern Titel“ irgendwann zu den Zeichnern, wo er schließlich Teil der dritten Generation wurde und sein Handwerk lernte. Mit dem Einzug der Computer im Jahr 1993 wurden die Grafiken nun mit „Macs“ erstellt. Die Erfindung des iPhones brachte ab 2007 den nächsten Schub. Die Vermittlung von Wissen mit Hilfe von Grafiken musste neu durchdacht werden, weil auf den kleinen Bildschirmen weniger Platz war, aber sehr viel Inhalt untergebracht werden musste.
2007 machte er sich selbständig und gründete das Büro Golden Section Graphics (seit 2017 Infographics Group, ab 2020 Sapera), das innerhalb von zehn Jahren zu einer der größten Infografik-Agenturen weltweit anwuchs. Neben dem Agentur-Geschäft verfolgte er mit seinem Team stets eigene Ideen. So veröffentlichte Schwochow gemeinsam mit dem Wirtschaftsjournalisten Ralf Grauel 2012 das Buch „DEUTSCHLAND VERSTEHEN“, das einen Infografik-Bücher-Boom auslöste. Im Sommer 2020 verließ Schwochow die Agentur, um sich wieder intensiver dem Thema Visual Story Telling mit Infografiken und Datenvisualisierung widmen zu können. Derzeit arbeitet er als Publizist und Journalist.
Das Schwierige am Kreieren von Infografiken ist für ihn die Nonlinearität.
„Wenn man ein Buch vor sich hat, ist das eine ziemlich lineare Geschichte, die man so durchgeht. Wenn man Fernsehen guckt, setzt man sich vor den Fernseher, sagt ‚Please Entertain Me‘, drückt auf Play. Bei Infografiken haben wir es wesentlich komplexer. Der Leser kann ja an jeder Stelle der Grafik einsteigen.“ Jan Schwochow sieht sich vor allem als Geschichtenerzähler: „Ich bin ein visueller Autor, so ähnlich wie ein Filmregisseur.“ Eine gute Geschichte hat einen roten Faden, einen Spannungsbogen und besticht durch Klarheit. Sie ist plausibel, konsistent, ökonomisch (auf das Wesentliche beschränkt) und einzigartig. Und sie lässt uns ohne besondere Anstrengungen lernen. In seinem Bildband „Die Welt verstehen mit 264 Infografiken“ versammelt er 264 Infografiken, in denen aus Daten, Fakten und Informationen verständliche Geschichten wurden. Thematisch wurden die Bereiche Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Sport, Kunst, Wissenschaft, Technologie und Nachhaltigkeit abgedeckt (das Jeans-Geschäft, Wasserknappheit, die Geschichte des Anthropozäns und des Elektroautos, der menschliche Fußabdruck, die Titanic die Berliner Luftbrücke, das Attentat auf Präsident Kennedy und sogar die Geschichte des Impfens. „Corona hält uns den Spiegel vor“, schreibt er in seinem Vorwort. „Vor dem Virus sind wir alle gleich. Wir erhalten aber durch die Krise vielleicht auch eine Chance, unseren Kindern und den nächsten Generationen eine andere und womöglich bessere Welt zu hinterlassen.“ Er möchte mit diesem Buch aber auch Hoffnung geben: „Unsere Natur, unsere Erde ist so schön und einmalig. Wir sollten alles dafür tun, um sie zu erhalten.“
Infografiken tragen dazu bei, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt begreifbar zu machen.
Dies erkennen auch immer mehr Unternehmen – allerdings findet eine mediale Auseinandersetzung mit ihren Infografiken kaum statt. Das ist insofern bedauerlich, weil ihre interne Entstehung auch viel über das Unternehmen selbst aussagt: Wie wird das Wesentliche hier gefunden? Warum erscheinen bestimmte Inhalte als Infografik und nicht als Text? Was haben sich die Gestalter dabei gedacht, und welchen Weg sind sie gegangen? Vor allem im Mittelstand werden die Infografiken von der eigenen Designabteilung erstellt – hier wäre es interessant zu wissen, wie Inhalt und Form zusammenfinden. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang einen Blick in den Nachhaltigkeitsbericht des Druckluft- und Pneumatikspezialisten Mader zu werfen, der in Leinfelden-Echterdingen ansässig ist und eine über achtzigjährige Geschichte hat.
Infografiken transportieren hier beispielsweise visuell und emotional die Stakeholdergruppen des Unternehmens, Ziele für nachhaltige Entwicklung und Maßnahmen, besonders interessant ist die Digitalisierung der Druckluftkette. Themen wie Umsatzentwicklung, Risikotypen für das Unternehmen, Papier- und Stromverbrauch, Altersstruktur, Betriebszugehörigkeit finden sich auch in vielen anderen Nachhaltigkeits- und CSR-Berichten als Infografik. Doch das eigene komplexe Kerngeschäft verständlich im Nachhaltigkeitskontext zu visualisieren ist eine enorme Herausforderung und ein stetiger Lernprozess. Ein Vergleich vom Einsatz solcher Infografiken in Nachhaltigkeitsberichten kann bereichernd sein, denn sie zeigen, wie ernst Unternehmen die Leser ihrer Publikationen nehmen. Zu viele Worte, die vorher oft verstaubt in Schubladen lagen, erwecken häufig Misstrauen und können nie eine nachhaltige Wirkung erzielen. Doch wer seine Themen und Fakten auf den Punkt genau vermitteln kann, hat sie auch verstanden.
Der Ruf nach Einfachheit in der Unternehmens- und Nachhaltigkeitskommunikation ist heute nicht nur ein Postulat, sondern eine unbedingte Notwendigkeit. Wer hier nicht in der Lage ist, zu fokussieren, wird auch nicht wahrgenommen und verstanden.
Weiterführende Informationen:
Warum Infografiken in einer von digitalen Datensätzen geprägten Welt so beliebt sind
Klimawandel: Ein Weckruf in Grafiken
Klimawandel: Warum Designer bei der Gestaltung unserer Zukunft eine tragende Rolle spielen
Jens Müller, Julius Wiedemann: Geschichte des Grafikdesigns. Band 2, 1960 bis heute. TASCHEN Verlag 2018.
Jan Schwochow: Die Welt verstehen in 264 Infografiken. Prestel Verlag, München 202