Emilio Galli Zugaro - Oliver Soulas

Vom Ich zum Wir: Das Anforderungsprofil der Führungskräfte im 21. Jahrhundert

Interview mit Emilio Galli Zugaro

Herr Galli Zugaro, warum funktionieren heute herkömmliche Theorien und Methoden des Managements nicht mehr?

Weil sich die Welt rasanter verändert hat als das Manager-Einmaleins. Das exponentielle Wachstum des Wissens ist für Jeden eine Herausforderung, mitzukommen. Das Vertrauen in die Eliten von Politik, Wirtschaft und Medien ist auf dem Tiefpunkt. Jeder individuelle Stakeholder - ob Kunden, Mitarbeitende oder Investoren - kann mit einem Tweet oder einem Eintrag auf Kununu das Unternehmen bloßstellen. Das Werben um die besten Talente auf dem Arbeitsmarkt stellt zusätzliche Anforderungen an Führung. Das dürfte schon reichen, um zu verstehen, warum man sich als Managerin andauernd neu zu erfinden hat. Aber eins sei nicht verschwiegen: Es kann ungeheuren Spaß machen und erfüllen, wenn man die Veränderung gestalten will.

Welche Führungsqualitäten sind in der Corona-Krise besonders gefragt?

Wenn man so will, humanistische Fähigkeiten. Tief zuhören können, totale Ehrlichkeit, echte Bescheidenheit und Demut, Agilität und Flexibilität, Fähigkeit, Fragen zu evozieren, Experimente zu wagen, schnell auch aus Fehlern zu lernen und umgehend den Kurs zu adaptieren. Man muss imstande sein, ein Klima der Sicherheit zu schaffen - für alle, niemanden ausgeschlossen. Kognitive Empathie. Da wir vor einer unvorhersehbaren, komplexen Entwicklung stehen, müssen Führungskräfte imstande sein, auf ihr Umfeld, ihre Stakeholder zu achten, um sie einzubinden, mitzunehmen und ein Gefühl der Bindung und der Ownership zu schaffen. In diesen Zeiten muss man förmlich zusammenstehen, nicht nur mit Mitarbeitenden, sondern auch mit Kunden, Investoren und der Gesellschaft.

Worauf basiert Ihrer Meinung nach richtiges Management?

Der Duden gibt uns zwei Hinweise: „handhaben und bewerkstelligen oder bewältigen; leiten“. Also sowohl das „Erledigen“ als auch das „Führen“. So kann man sagen, dass richtiges Management bedeutet, die vom Unternehmen gesteckten Ziele für sich und das Team zu erreichen und zu übertreffen. Und zu diesem „Erledigen“ gehörten traditionell eine Reihe von Basisfähigkeiten wie fachliche Kompetenz, betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse, Basiswissen im Arbeitsrecht und Personalführung etc.

Was sollten heute die Basisfähigkeiten von Management sein?

Ich weiß nicht, ob man heute noch Basisfähigkeiten für Management von denen für guter Führung trennen kann. Die fachliche Expertise, die man sich in Ausbildung und Studium angeeignet hat, hält bei der rapiden Erweiterung des Wissens nicht für ein ganzes Berufsleben und muss stetig erneuert werden. Das gilt auch für die Führungskompetenz. Und je höher jemand befördert wird, desto mehr neue Stakeholder hat diese Führungskraft, und desto wichtiger wird es, die Kommunikation mit Kunden, Mitarbeitenden, Investoren und der Gesellschaft zu meistern. Dabei wird das Zuhören unterschätzt - oft sagen Manager „kommunizieren“, meinen aber „verkünden“. Das ist einer der Hauptgründe für die Bedeutung eines vielfältigen Teams, um so viele unterschiedliche Sensibilitäten, „Ohren und Augen“ für die verschiedenen Realitäten unter den Stakeholdern zu haben, dass man sich in sie hineinversetzen kann.

Woran ist richtige Führung erkennbar?

Am Erfolg. Mehr glückliche Kunden, beste, motivierte Mitarbeitende, zufriedene Investoren, eine Gesellschaft, die dem Unternehmen die Lizenz zu wirtschaftlichen Arbeiten gibt, weil es Akzeptanz genießt. Das kann man alles messen, und das sollte man auch.

Ist es im Management am wichtigsten herauszufinden, was der Einzelne kann, welche Stärken er hat – und ihn dort einzusetzen, wo er einen Beitrag zu leisten vermag?

Eindeutig ja. Wenn man Mitarbeitende so führt, dass versucht wird, ihre Schwächen auszumerzen, wird eine durchschnittliche Underperformance von 27 Prozent erzielt. Wenn deren Stärken gefördert und eingesetzt werden, erzielt man eine durchschnittliche Over-Performance von 36 Prozent (Corporate Leadership Council, 2002). Welches Unternehmen kann sich ein Delta von Minus 60 Prozent bei der Performance gegenüber besser geführten Wettbewerbern leisten?

Was machen für Sie echte Leader aus?

Das sind Menschenentwickler, die ein wahres Interesse an Menschen und deren Weiterkommen haben. Sie schaffen es, durch glaubwürdige Information Verständnis zu wecken, durch gutes Zuhören Menschen an der Unternehmung zu beteiligen, egal ob es eine politische Bewegung oder eine Firma ist. Es geht darum, dass Menschen mit einem Bezug zu dieser Organisation sie auch als die ihre erachten, also eine echte Beziehung zu schaffen. Das geschieht, indem die Führungskraft ihre Mitarbeitenden befähigt und entwickelt - und Macht abgibt, um Verantwortung besser wahrnehmen zu können. Für die Strategie und den wirtschaftlichen Erfolg. Aber zuvorderst durch die Entwicklung der ihnen anvertrauten Menschen.

Weshalb ist es für Führungskräfte wichtig, bei der Lösung ihrer Aufgaben nicht auf Charisma, sondern auf Selbstdisziplin und Vorbild zu setzen?

Insgesamt verschiebt sich das Anforderungsprofil für die Führungskräfte im 21. Jahrhundert und insbesondere in der Pandemie vom früheren „Ich“ zum heutigen „Wir“. Von der Zentrierung auf die Führungskraft und ihren notwendigen Eigenschaften, fachlichen Kenntnissen und ihrer Erfahrung kommen wir zur Wirksamkeit von Teams. Diese zu ermöglichen ist die Aufgabe der Führungskraft. Dabei ist es wichtig, dass das „Wir“ gestärkt wird. Nur vielfältige Teams, ausgestattet mit vielen unterschiedlichen Talenten, meistern die Herausforderung immer selbstgesteuerter, hierarchieärmerer Organisationen. Um diese Potentiale zu entfachen, muss eine Führungskraft wissen, wie sie die besten Kenntnisse im Team birgt, sie muss dem Team höchstmögliche Autonomie geben und ein klares Verständnis des „Warum arbeiten wir hier?“ geben, der Sinnhaftigkeit der Aufgaben.

Woher nehmen die besten Führungskräfte ihre Motivation - vor allem aus der Aufgabe, die sich ihnen stellt?

Aus den gleichen Quellen, nach Daniel Pink, die ich gerade genannt habe. Aus der Genugtuung, fachlich exzellent ausgeführter Arbeit, die die eigenen Talente bestmöglich genutzt hat; aus der Autonomie, in der man arbeiten durfte, um diese Ergebnisse zu erzielen; aus der Sinnhaftigkeit des Handelns, des Unternehmens, der Ziele und Vision der Organisation.

Welche Irreführungen beobachten Sie im Personalwesen? Sollte schon der martialische Begriff „War for Talent“ nicht stutzig machen?

Absolut. Wir nutzen immer noch viel zu viele Kriegs-Metaphern. Da sind Manager „in den Schützengräben“ und versuchen, „den Feind“ zu „besiegen“. Das rührt auch aus dem Ursprung der Führungstraditionen im Militär. Unternehmen haben nämlich viel vom Militär übernommen, Dienstgrade, Befehlsketten … und auch die Sprache. Auch hier ist es Zeit für ein Umdenken vom Ich zum Wir. Ein gutes Beispiel ist das erste Foto des „schwarzen Lochs“. Das ist nur entstanden, weil alle Teleskope der Welt, aus allen Kontinenten, aus Demokratien und Autokratien ihre gesamte Kraft eingesetzt haben, um zum Gelingen dieses einen Fotos beizutragen. Ohne Kooperation bekommen wir den Klimawandel, die Ernährung der Weltbevölkerung, die Pandemien nicht in den Griff. Und die Unternehmenserfolge auch nicht.

Wie können gewöhnliche Menschen befähigt werden, außergewöhnliche Leistungen zu erbringen, und welche Rolle spielt dabei die Sinngebung?

Eine sehr starke. Es fängt aber alles bei einem selbst an. Wie gut kenne ich mich mit meinen Talenten und Schwächen? Wofür will ich meine berufliche Energie einsetzen? Wie komme ich in den „Flow“, und warum ist das wichtig [weil es die Performance verstärkt und Lust bringt]? Wofür bin ich bereit, die Extrameile zu gehen? Welche Talente habe ich, die ich bisher vielleicht nur in meiner Freizeit angewendet habe, die mich aber auch beruflich weiterbringen? Diese Fragen sollten wir uns selbst stellen und unseren Teammitgliedern. Und das alles muss einen Sinn erfüllen, wenn es uns antreiben soll, außergewöhnliche Leistungen zu erbringen. Martin Seligman unterscheidet, auch im Sinne Maslows, drei Arbeitskategorien:

a) die Jobs, das ist Arbeit, die man macht, um zu überleben, die Miete zu zahlen, die Kinder zu füttern.

b) die Karriere, die Arbeit, in der ich meine Position ständig verbessern möchte.

c) die Bestimmung, die Arbeit, die sich gar nicht wie eine solche anfühlt.

Je höher man Richtung Bestimmung steigt, desto wichtiger wird die Beantwortung der Frage nach dem „Warum?“ des eigenen beruflichen Handelns. Das gilt im Übrigen nicht nur für Individuen, sondern auch für die Gesellschaft. Das Deutschland der ersten Nachkriegsjahre war die Phase des Überlebens. Im Wirtschaftswunder hatten wir die Ära des sozialen Aufstiegs. Das 21. Jahrhundert ist die Zeit, Wirtschaft ausschließlich in den Dienst der Menschen, der Gesellschaft und des Planeten zu stellen. Das wird übrigens den Unternehmen, die so handeln, wirtschaftlich gut bekommen.

Haben Sie je einen Manager kennengelernt, der seine innere Kraft nur aus ihrem Einkommen geschöpft hat?

Durchaus. Aber die sind nie richtig erfolgreich geworden, auch wenn sie es bis ganz nach oben geschafft hatten.

Sie sind Inhaber, Gründer & Geschäftsführer der Orvieto Academy for Communicative Leadership. Welche Schwerpunkte werden hier vermittelt?

Unser Ansinnen ist es, Führungskräfte – Newcomer ebenso wie Etablierte – bei diesem Wandel, dieser Transformation, möglichst gut zu unterstützen: Gute Führung [auch] durch gute Kommunikation – und umgekehrt. So, dass die Führungskraft und ihre Organisation von allen eine Lizenz zum Wirtschaften, eine Akzeptanz bekommt. Von den Mitarbeitenden, den Kundinnen, den Investoren und der Gesellschaft als Ganzes. Unsere Disziplinen orientieren sich am Bedarf, auch wir hören genau hin, wo Führungskräfte heute Unterstützung brauchen – daher arbeiten viele unserer Trainerinnen und Coaches in der Teamführung, an der Entwicklung zeitgemäßer Kommunikationskulturen und Führungsstile, in Change-Programmen bis hin zu Energiemanagement und Achtsamkeit, um dabei zu helfen, den Herausforderungen gesund begegnen zu können.

Welche Bedeutung spielt in Ihrer Arbeit das Thema Nachhaltigkeit im Kontext neuer Managementqualitäten?

Es ist Kernbestandteil. Wenn ich nicht so wirtschafte, dass ich nach dem unternehmerischen Prozess mein Umfeld verbessere und ressourcenreicher mache, werde ich keine Lizenz zum Wirtschaften bekommen. Von der Gesellschaft erstmal nicht, aber zunehmend auch nicht von Investoren, Kunden und Mitarbeitenden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Emilio Galli Zugaro ist verheiratet, Vater von vier Kindern und eine Leseratte, idealerweise im knallroten Ohrensessel seiner Bibliothek in Umbrien oder in der Hängematte daneben. Neben dem Otium pflegt er auch dessen Gegenstück, das Neg-Otium, das Berufliche. Er ist Chairman der Methodos Group, Mailand, eine der führenden europäischen Changemanagement Firmen. Er coacht Vorstände und Aufsichtsräte von DAX-30 Unternehmen und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität sowie an der ESMT in Berlin Kommunikative Führung. In den Jahren 2016 und 2017 hat er die Orvieto Academy for Communicative Leadership gegründet. 2017 ist in London „The Listening Leader“ erschienen, ein Buch über kommunikative Führung, das er mit seiner Tochter, der Psychologin Clementina Galli Zugaro, geschrieben hat. 2018 erschien sein Buch „Ich bin so frei, raus aus dem Hamsterrad – Rein in den richtigen Job“, das er mit Jannike Stöhr schrieb. Von 1992 bis 2015 hat er die weltweite Unternehmenskommunikation des Allianz-Konzerns verantwortet. Er studierte in Würzburg und Rom Politikwissenschaften und übernahm in der italienischen Politik Funktionen in der Öffentlichkeitsarbeit, unter anderem als PR-Chef des Dachverbandes der italienischen Industrie- und Handelskammern. Von 1985 bis 1992 arbeitete er als Journalist für internationale Medien wie Fortune, Wirtschaftswoche, L‘Indipendente, Finanz und Wirtschaft, The European.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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