Warum immer mehr Menschen zu Selbstversorgern werden
Einfach und lebenswert
Von den meisten Produkten, die uns umgeben, kennen wir die Geschichte nicht mehr. Wir wissen nicht, wie sie gemacht wurden und wo sie herkommen. Damit geht auch die Aufmerksamkeit für Rohstoffe und deren Verarbeitung verloren. Eine Gegenbewegung zum Massenkonsum und Materialismus ist die Selbstversorgung, die derzeit einen enormen Boom erlebt. Vielleicht, weil Bodenständigkeit, Einfachheit, Unmittelbarkeit und Selbstbestimmtheit unverzichtbare Werte im Leben sind, und weil Selbstversorgung Ausstieg aus den Zwängen und Verhängnissen der Globalisierung bedeutet.
„Ist das der ersehnte Ausweg aus dem entfremdeten Konsum, die Rückkehr zum Echten und Ehrlichen?“, fragte Marie Schmidt in ihrer kleinen Geschichte vom richtigen Leben in DIE ZEIT im Juni 2015. Es ist zumindest eine Möglichkeit, das eigene Lebensumfeld bewusster zu gestalten. So pachten viele junge Städter Ackerboden zur Selbstversorgung. Sie möchten mit den Händen in der Erde arbeiten und die Natur wieder spüren. Und sie wollen saisonales Bio-Obst und Gemüse aus der Region essen.
Das Unternehmen „Ackerhelden“, das 2012 gegründet wurde, stellt landesweit Bioland-zertifizierte Felder zum Selbsternten bereit. In Deutschland gibt es hunderte Urban-Gardening-Projekte, die zugleich echte Verbundenheit Gemeinschaft stiften und von Forschern als Vorstufe der Stadt der Zukunft bezeichnet werden. Seit 2008 leben weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Bis 2030 rechnet der Bevölkerungsfond der Vereinten Nationen mit fünf Milliarden Städtern. Vor diesem Hintergrund braucht es „diesen Enthusiasmus, um die Städte lebenswert zu machen“, sagt Falko Feldmann, Geschäftsführer der Deutschen Phytomedizinischen Gesellschaft (Focus 14/2015). Mit den Gärten würde urbane Landwirtschaft erprobt. Anbau und Ernte erfolgen dort, wo auch gegessen wird.
Internet der nachhaltigen Dinge
Mit der Selbstversorgung ist zugleich der Wunsch nach etwas Handfestem verbunden und dem Rückblick auf das, was gut war und auch heute noch zu einem besseren Leben beiträgt. Viele Öko-Unternehmen integrieren dieses Wissen auch in ihre Kommunikationsmaßnahmen. So heißt es in einem Katalog für Privatkunden: „Fragen Sie Eltern oder Großeltern: Die meisten von ihnen kennen den wahren Wert von Lebensmitteln noch und haben nach dem Prinzip kochen gelernt, dass möglichst alles Verwendung findet.“ (Quelle: memolife) Damit werden Konsumenten darin unterstützt, sich der schönen Dinge des Alltags wieder bewusst zu werden und sich zu fragen: Wo und von wem wurden sie hergestellt? Wie hoch war die Umweltbelastung bei Herstellung und Transport?
Die Prinzen-Rolle
Auch für Prinz Charles ist es ein wichtiges Anliegen, immer wieder darauf zu verweisen, wie wichtig kleine Familienlandwirtschaften sind. Den großen industriellen Systemen fehlt seiner Meinung nach die Balance. Seine Vision ist es, die Welt ökologisch zu ernähren und die geschundene Natur zu heilen. Der Kinofilm von Bertram Verhaag „Der Bauer und sein Prinz“ (2014) zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie er dieses Ziel mit seinem Farmmanager David Wilson seit 30 Jahren auf seiner ökologischen Farm in Südengland verfolgt.
Heute pilgern Bauern aus ganz Britannien zur Duchy Home Farm, um zu erfahren, wie sie ihre eigene Landwirtschaft umstellen können. Landwirtschaft unterscheidet sich für Prinz Charles wesentlich von anderen Wirtschaftszweigen: „Denn ihr obliegt die langfristige Verantwortung für die kostbaren Lebensgrundlagen aus der Natur. Wir müssen einsehen, dass wir selbst auch ein Teil der Natur sind und nicht getrennt von ihr existieren.“
Reinhold Messner, der berühmteste Bergsteiger der Welt, bewirtschaftet ebenfalls Selbstversorger-Höfe - ohne Subventionen. Auch ihm geht es um Aufklärung, wie Selbstversorgung funktioniert, „und dass wir die Kulturlandschaft künftig nicht nur pflegen und schützen, sondern auch richtig nutzen müssen.“ (stern, 11.9.2014)
Stresstest Energie
Zur Selbstversorgung gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Energie. Die Frage, was passiert, wenn Russland den Gashahn abdreht, wird inzwischen immer häufiger gestellt und sorgt für Verunsicherung. Auch Beamte in Brüssel widmen sich seit einiger Zeit der Frage, was geschieht, wenn Russland Europa nicht mehr beliefert. Im Herbst 2014 erprobte die EU-Kommission den Ernstfall: Fällt Russland aus, blieben vor allem in Südosteuropa viele Wohnungen kalt. Wegen der EU-weit größten Speicherkapazitäten schnitt Deutschland relativ gut ab: „Damit könnte sich die Bundesrepublik 80 Tage selbst versorgen. Der Stresstest verdeutlichte aber, wie dringend die EU eine gemeinsame Energiepolitik brächte. („Auf und zu“, in: Süddeutsche Zeitung, 20./21.12.2014)
Einige Städte und Gemeinden versorgen sich inzwischen selbst mit Strom. Dazu gehört auch die Stadt Schönau im Schwarzwald. Aus einer Bürgerinitiative entstand dort ein Stromanbieter, der auf erneuerbare Energien setzt. Die Genossenschaft übernahm auch das lokale Verteilernetz und bietet inzwischen deutschlandweit Ökostrom an. Auch die Gemeinde Wüstenrot will bis 2010 „energieautark“ werden. Der niederösterreichische Landwirt Wolfgang Löser ist mit seinem Bauernhof seit mehr als zwölf Jahren „energieautonom“: „In Summe kann ich den gesamten Jahresenergiebedarf auch selbst abdecken. Wenn weder die Sonne scheint noch der Wind geht, kann ich mit einem Stromaggregat, das mit eigenem Pflanzenöl betrieben wird, unseren Hof mit Strom versorgen.“ (GEWINN, 5/2015) Aus dem fossilen System ist er ausgestiegen, weil die Mineralölkonzerne den Preis diktieren können. Die Wertschöpfung wollte er wieder auf seinem Bauernhof behalten. Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist ein energieautarkes Österreich unumgänglich – im Bewusstsein, dass das Gesamtsystem auf nachhaltige Wirtschaftsweise und regionale Kreisläufe umgestellt werden muss.
Angst essen Leser auf
2010 erschien im Kopp Verlag von Marion und Michael Grandt „Das Handbuch der Selbstversorgung“, das sich dem Überleben in der Krise widmet: Wie wahrscheinlich ist der Zusammenbruch? Wie ist unsere Versorgungslage in Wirklichkeit? Wie viel Nahrung und Wasser braucht der Mensch? Was ist zu tun, wenn es keine Lebensmittel mehr zu kaufen gibt, wenn Geld kein Zahlungsmittel mehr ist, und es keine ärztliche Versorgung mehr gibt? Wenn es zu einem Crash kommen sollte, der zu Versorgungsengpässen führt, bleiben nach Meinung der Autoren nur wenig Alternativen: Flucht aus der Stadt, Selbstversorgung, Tauschmittel. Das Buch zeichnet ein düsteres Szenario der Zukunft, eine unheimliche Stimmung, die schleichend zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird, wenn wir uns darin verlieren. Angst essen Leser auf.
Der (sich selbst) bewusste Mensch weiß, dass Zukunft auch Optimismus braucht. „Ja, aber ich kann eh nichts ändern.“ Sätze wie diese befriedigen Menschen wie den österreichischen Unternehmer Josef Zotter nicht. Der Choclatier wollte schon immer Lebensmittel herstellen, die kompromisslos ehrlich und fair zu Menschen und Umwelt sind. Nachhaltiger lässt sich die Beziehung von Selbstversorgung und der Sorge um sich nicht beschreiben.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gartenzeit: Wie wir Natur und Kultur wieder in Gleichklang bringen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Josef Zotter: Think green: Vielfalt, Qualität, Kreativität und Nachhaltigkeit bei der zotter Schokoladen Manufaktur GmbH. In: CSR und Energiewirtschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2019.