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Warum wir uns Zukunftsblindheit nicht leisten können: Ein Weckruf

Die Zukunft wirft einen Schatten auf die Gegenwart

Unsere Erwartungen an die Zukunft haben heute zwar erheblich an Leuchtkraft verloren, doch brauchen wir Klarheit, um in einer Welt, die von radikalen Veränderungen und Unsicherheiten geprägt ist, den Weg dorthin zu finden und ins Handeln zu kommen. „Die Gesellschaft von morgen kommt nicht über uns wie ein Software-Update. Sie wird im scheinbar Kleinen geschaffen, in Laboren, Forschungsinstituten und Start-ups“, schreibt Dr. Benedikt Herles, Jahrgang 1984, in seinem Buch „Zukunftsblind“. Als Risikokapitalinvestor ist er weltweit unterwegs und erlebt die wissenschaftlich-technologischen Revolutionen hautnah. Dabei interessiert ihn die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung von Innovationen mehr als die Technik an sich, denn Technologie „ist nur so gut oder schlecht wie das, was wir aus ihr machen.“

Auch wenn mit Hochdruck an der digitalen Erneuerung Deutschlands gearbeitet wird, sollten wir die sozialen und politischen Risiken der technologischen Umbrüche nicht kritiklos hinnehmen und nicht in konturlosen Begrifflichkeiten wie „Digitalisierung“ verharren. Herles ist immer konkret und spricht von einer „technologisch-wissenschaftlichen Zeitenwende“, denn wir erleben heute im Komplexitätszeitalter etwas viel Fundamentaleres als alles, „was uns Dampfmaschine und Massenfertigung je brachten.“

Mittlerweile werden zwar Milliarden in die digitale deutsche Aufholjagd investiert, doch der Politik fehlte in der Vergangenheit oft das Gefühl der Dringlichkeit. Die Schlagkraft des Wandels wurde unterschätzt, und sie versuchte, sich durchzumogeln. Häufig wird nicht verstanden, dass Dringlichkeit etwas anderes als „wichtig“ ist. Sie zeigt sich dann, „wenn in einer sozialen Gruppe die gefühlte Erkenntnis herrscht: Wir müssen sofort gemeinsam handeln.“ (Niels Pfläging) Dringlichkeit kann weder beschlossen noch verordnet werden. Sie fußt auf den drei Säulen Verstehen, Hoffnung und Identifikation - und ist freiwillig. Allerdings können wir an ihr arbeiten (wie auch das Buch von Herles zeigt), indem die Dringlichkeitstemperatur erhöht und damit Veränderungsenergie nach vorn gerichtet werden kann. Ab einer bestimmten Temperatur fügen sich die Dinge – dann wird nicht mehr nur geredet, sondern es entsteht die Bereitschaft zu handeln.

In der Politik gibt es inzwischen ein Digitalkabinett, einen IT-Rat und IT-Planungsrat, einen Digitalrat, eine Datenethik-Kommission, eine Enquetekommission zur Künstlichen Intelligenz und zahlreiche Arbeitsgruppen (was allerdings noch nichts über wirksames Handeln aussagt). Die Bundesregierung hat am 15. November 2018 in Potsdam ihre Strategie Künstliche Intelligenz https://www.ki-strategie-deutschland.de/home.html vorgestellt. Deutschland soll "zum weltweit führenden Standort in der Entwicklung und Anwendung künstlicher Intelligenz" werden. Es müssten andererseits Bürgerrechte geschützt sowie "gesellschaftliche Grundwerte und individuelle Grundrechte" gewahrt werden.

Das liest sich alles sehr allgemein – umso wichtiger ist ein Buch wie „Zukunftsblind“: „So wie Google heute schon unsere Suchanfragen automatisch vervollständigt, so könnten in Zukunft künstliche Intelligenzen direkt in unsere Denkprozesse eingreifen. Es mangelt nicht an hoch finanzierten Projekten.“ Herles zeigt aber auch die Vorzüge des klaren Denkens und der natürlichen Intelligenz, in die genauso investiert werden sollte. Zudem ist der Mensch für eine gesellschaftliche Wertschöpfung weiter unersetzlich: „Selbst wenn alle ökonomische Macht von künstlicher Intelligenz ausgeht, bleiben uns mehr als genug Aufgaben, bei denen es vor allem auf emotionale Geisteskraft ankommt.“

Gefragt sind jetzt mutige Veränderungen und frische Konzepte – damit verbunden sind für ihn drei Dimensionen:

1. Der digitale Kapitalismus muss neu legitimiert werden.

2. Die Gefahren und Folgen eines revolutionären technologischen Wandels müssen gebändigt werden.

3. Der menschliche Eingriff in die Biosphäre, inklusive der Biologie an sich, muss unter Kontrolle gebracht werden.

Alle Aufgaben hängen eng miteinander zusammen und verlangen nach völlig neuen Denkweisen. Der von Benedikt Herles vorgestellte Zehn-Punkte-Plan geht weit über die gegenwärtig diskutierten Reformvorhaben hinaus und zeigt, dass nur mit Klarsicht und Gestaltungswillen das politische Innovator’s Dilemma überwunden werden kann:

  1. Steuergerechtigkeit

Kapital und Löhne gleich belasten, Erbschaftssteuer anheben!

  1. Bedingtes Grundeinkommen

Bürgerliches Engagement dokumentieren und entlohnen!

  1. Aktien für alle

Belegschaften an Unternehmergewinnen teilhaben lassen!

  1. Bildungsrevolution

Die Klassenzimmer entstauben, Lehre und Inhalte zeitgemäß gestalten!

  1. Zukunftsbeteiligung

Einen Staatsfonds gründen und in führende Technologie-Unternehmen investieren!

  1. Staatstransparenz

Eine „Bürger-Blockchain“ einrichten und Steuerzahlungen nachvollziehbar machen!

  1. Zukunftsministerium

Eine Fortschrittsbehörde schaffen, die sich um die gesellschaftliche Bewältigung des Wandels kümmert!

  1. Algorithmen- und Datenkontrolle

Künstliche Intelligenz und kritische Software überwachen!

  1. Europäischer Genplan

Eine EU-Agentur für Biotechnologie gründen, den Forschungsstandort Europa fördern!

  1. Globale Kooperation

Eine UN-Technologie-Konferenz einberufen, internationale Kontrollinstitutionen gründen!

Der studierte der Volks- und Betriebswirt promovierte über das Entstehen ökonomischer Werte. Regelmäßig trifft er auf Start-ups und ihre Gründer, die antreten, um Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern. Die wenigen, die es schaffen, sind für Herles die Motoren des Fortschritts. Sein Buch "Die kaputte Elite" (2013) ist ein viel diskutierter Wirtschaftsbestseller, der noch immer aktuell ist. „Das Humboldt’sche Bildungsideal hat seinen Weg hingegen nicht nach Vallendar gefunden“, schreibt er über die private Wirtschaftsuniversität WHU in Vallendar, wo er BWL studierte. Der Universalgelehrte sah die Erscheinung der Dinge in ihren Zusammenhängen und erkannte „in der Mannigfaltigkeit die Einheit, die unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt“. Natur war für ihn ein belebtes Ganzes und Wissenschaft nichts Statisches, sondern ein dynamischer und lebendiger Prozess. Der Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft gelingt nur durch einen solchen ganzheitlichen Ansatz und nicht durch „Technokraten-Manager“ und „Folien-Akrobaten“.

Nachhaltigkeit ist auch der rote Faden seines Buches „Zukunftsblind“: „Wir verbrauchen deutlich mehr Ressourcen, als uns Mutter Natur zu Verfügung stellt, und das auf Kosten zukünftiger Generationen. Im Jahr 2030 werden mehr als zwei Erden nötig sein, um die Bedürfnisse der Spezies Mensch abzudecken.“ Herles sieht nicht nur Teilaspekte, sondern das Ganze: So geht es heute nicht nur um den Klimawandel, denn der Mensch bedroht die Stabilität der gesamten Biosphäre. Technologie und Wissen sind für ihn zweifellos die Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum: „Die Rettung der Zukunft gelingt nur mit Innovation, nicht ohne sie. Es ist Aufgabe der Politik, den Fortschritt in den richtigen Bahnen zu halten, aber nicht, ihn zu verhindern.“

Weiterführende Informationen:

Benedikt Herles: Zukunftsblind. Wie wir die Kontrolle über den Fortschritt verlieren. Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2018.

CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler, Heidelberg und Berlin 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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