Warum wir unseren Umgang mit Abwasser ändern müssen
Viele, zum Teil hochgefährliche Stoffe und Keime werden in Deutschland über die Klärwerke oder bei Starkregen in die Gewässer eingeleitet. Obwohl längst erprobte Technologien vorhanden sind, um Abwässer besser zu reinigen oder Abwassereinleitungen zu verhindern, erfolgt die Umsetzung nur schleppend. Noch schlimmer sieht es in anderen Ländern aus: weltweit werden 80 bis 90% der Abwässer überhaupt nicht gereinigt.
Interview mit Ralf Steeg, Gründer WITE.company
Herr Steeg, wie sieht die Situation in Berlin aus?
Bei Starkregenereignissen werden in Berlin pro Jahr etwa drei Milliarden Liter ungeklärte Abwässer in Spree und Landwehrkanal eingeleitet. Ungeklärt heißt: Hoch belastet mit Mikroplastik, Arzeineimittelrückständen, menschlichen und tierischen Fäkalien, Schwermetallen und Ölen und sogar den ungeklärten Abwässern der Krankenhäuser. Obwohl die Stadt 300.000 m3 Speicherraum geschaffen hat, ist das viel zu wenig. Außerdem sind selbst im gereinigten Abwasser der Klärwerke noch viele Stoffe, die dort nicht hineingehören und die mit technischen Möglichkeiten längst herausgefiltert werden könnten.
Das Problem betrifft aber nicht nur Berlin …
Richtig, von den 9800 deutschen Kläranlagen haben nur wenige eine 4. Reinigungsstufe, eben die Stufe, die notwendig wäre, um das Abwasser besser zu reinigen. Im Bereich Gewässerschutz ist in den letzten Jahrzehnten viel passiert, aber in Anbetracht der Tatsachen viel zu wenig und viel zu langsam. Gefährlich wird es besonders im Bereich der Krankheitserreger. Hier werden die Flüsse im schlechten Fall zu regelrechten Verteilerströmen für multiresistente Keime und z.B. Noroviren. Und: Wir sollten vorsichtig sein, denn niemand weiß, in welche Richtung Viren mutieren, um sich selbst zu erhalten. Nicht umsonst waren es Ärzte, die im 19. Jahrhundert darauf gedrängt haben, Kanalisationen zu bauen und die Wasserversorgung zu modernisieren.
Wann werden Sie richtig wütend?
… wenn ich sehe, dass weltweit zwischen 80 und 90% der Abwässer überhaupt nicht gereinigt werden. Ich habe diese Zahl gelegentlich getwittert. Viele Menschen glauben das nicht und haben angefangen, mit mir zu streiten. Aber das sind die Zahlen der UNO.
Wenn wir die Probleme lösen wollen, müssen wir neue Wege beschreiten. Wie könnten sie konkret aussehen?
Da gibt es zwei wichtige Punkte: 1. Wir müssen die Umsetzung von Technologien vereinfachen. Daran arbeite ich mit meinem Ingenieurbüro. Den Bau eines Klärwerks für eine Kommune so zu simpel zu gestalten, als wenn sie neue Büromöbel im Internet bestellt, ist das Ziel. Die ganze Konfigurierung kann heute schon zum großen Teil über Computerprogramme ablaufen. Bei Autos geht das schon. Auch das sind hochkomplexe technische Gegenstände. Warum nicht bei Klärwerken?
Der zweite Punkt ist die Zeit. Die spielt speziell im Bereich der Siedlungswasserwirtschaft fast keine Rolle. Man vergisst, dass während der zehn oder zwanzig Jahre, während der eine Kanalisation oder ein Klärwerksumbau geplant werden, dass Abwasser weiter schlecht oder nicht gereinigt in Flüsse und Meere fließt und dort immense ökologische und nachfolgend volkswirtschaftliche Schäden anrichtet.
Eigentlich wäre es einfach: Die Planung eines Klärwerks dauert sechs Monate, der Bau ein Jahr, Gelder sind in vielen Ländern vorhanden. Und das Ergebnis – sauberes Wasser – würde Menschen weltweit glücklicher machen, die Natur reparieren und die Wirtschaft beflügeln. Ein weltweites Programm zum Bau von Kläranlagen wäre zugleich ein weltweites Konjunkturprogramm.
Warum braucht die Welt dringend ein Programm zum Bau von Kläranlagen?
Wir arbeiten mit Hochdruck daran, diesen Planeten in eine stinkende und gefährliche Müllkippe zu verwandeln. Die Ozeane sind voller Müll. Arten sterben, weil ganze Nahrungsketten durch verunreinigtes Wasser zusammenbrechen. 360.000 Kinder sterben jährlich an verunreinigtem Trinkwasser. Das Grand Barrier Riff stirbt. Viele dieser Probleme können ganz oder teilweise mit Kläranlagen oder Technologien der Siedlungswasserwirtschaft gelöst werden. Natürlich kann sie nicht alle Probleme lösen, aber auch in den anderen Bereichen, z.B. Verkehr gibt es Lösungen, die längst umgesetzt werden sollten. Die Wissenschaft ist der Politik oft Jahre voraus und sollte gehört werden.
Ich hege große Sympathien für Fridays for Future und hoffe, dass sich ihnen noch viel mehr Menschen anschließen, und dass die Bewegung Kraft und Einfluss findet, die Politik zum Umlenken zu bewegen. Schlussendlich muss das weltweite Wirtschaftssystem gründlich reformiert werden. Von einem Zerstörungs- zu einem Nachhaltigkeitssytem.
Den Inbegriff „Inscheniör“ prägte Edzard Reuter, der von 1987 bis 1995 den Daimler-Konzern als Vorstandsvorsitzender führte. Vor einigen Jahren sprach er davon, dass die deutschen Ingenieure den Wandel verschlafen könnten, weil viele von ihnen noch in der Welt von Taschenrechnern und Millimeterpapier lebten und den Übergang ins 21. Jahrhundert verpasst haben. Sehen Sie das auch so?
Man kann die Welt auch mit einem Taschenrechner und Millimeterpapier verbessern. Aber: Ich gebe ihm Recht. Ich habe Ingenieure, die eigentlich zur Elite der Denker gehören sollten, oft als denk- und risikofaul erlebt. Nicht nur dass: Sie verhindern bewusst neue Lösungen. Sie verschanzen sich hinter ihren Arbeitsblättern, widersetzen sich Lösungen, die schon Kinder verstehen und beraten die Politik falsch. Sie sind gut darin, Dinge immer weiter zu verbessern, aber grundlegend nach neuen Wegen gesucht wird zum Beispiel in meinem Bereich nur selten. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wir haben Technologien, die fast an Wunder grenzen. Wenn Sie z.B. Drehkolbenpumpen von Vogelsang sehen, das sind Kunstwerke des Engineerings. Oder Durchflussmessgeräte von Krohne. Am liebsten würde ich mir diese Teile auf den Wohnzimmertisch stellen.
Was aber in diesem Land fehlt, ist die Lust, Dinge zu hinterfragen, aus komplexen Problemen einfache Lösungen zu entwickeln, fachbereichsübergreifend zu denken. Beispielsweise sind Verkehr, Energie und Wasser eng verbunden. Mikroplastik stammt vom Abrieb der Reifen und Bremsen und landet im Gewässer, Kläranlagen verbrauchen oft so viel Energie wie ganze Städte. Genau nach Lösungen in diesen Bereichen suchen wir in unserem Unternehmen: Warum baut man Klärwerke so, wie sie jetzt aussehen? Warum baut man solche Anlagen nicht in Serie, damit sie kostengünstiger werden, sondern jedes Klärwerk ist eine Sonderanfertigung? Warum benutzt man immer noch Beton, obwohl die dokumentierten Schäden, die weltweit durch Korrosion entstehen, in die Milliarden gehen, und Klärwerke oft schon nach 20 Jahren saniert werden müssen, obwohl die Lebensdauer bei der dreifachen Zeit liegen sollte? Wie kann man Kläranlagen für 10.000 Menschen an Fassaden oder unter Straßen in hochverdichteten asiatischen Großstädten unterbringen? Warum die Kläranlagen immer an Land bauen, wenn man sie kostengünstiger und schneller direkt vor dem Abwassereinleitungspunkt im Gewässer installieren kann? Man kann sie so begrünen, dass man sie nicht mehr als Klärwerke erkennt. Und dann vielleicht sogar Plateaus obendrüber bauen, auf denen sich eine öffentliche Gartenanlage befindet?
Ist das Denken vieler Ingenieure noch in der der alten Industriewelt verhaftet, die häufig davon ausging, dass sich Probleme lediglich durch Optimierung lösen lassen?
Ja. Ein Beispiel: Durch den Einzug des Computers wäre es möglich, kleinere, dezentrale Kläranlagen zu bauen. Das wiederum würde den Bau von langen Rohrleitungen hin zu den bisherigen Großkläranlagen überflüssig machen und könnte zu einer Kosteneinsparung von 50% der Gesamtkosten führen. Zusätzlich werden über viele Jahrzehnte Energie- und Betriebskosten gespart, weil das Abwasser nicht mehr über weite Strecken gepumpt werden muss. Man kann also die Energieerzeugung reduzieren. Stattdessen beschäftigen sich Scharen von Ingenieuren mit dem Neubau der Zuleitungskanalisationen.
Aber es sind nicht nur die Ingenieure, die in ihrer Bequemlichkeit verharren. Es sind ganze Unternehmen, die vor potentiellen grünen Märkten sitzen und diese nicht erkennen.
Ich sehe diese Veränderungsträgheit in vielen Bereichen. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass das Privatauto tot ist. Warum wird nicht mit Hochdruck und besserer politischer Unterstützung an autonomen Beförderungssystemen gearbeitet, die man mit einer App ruft und die jeden Menschen, sei es aus der Stadt oder vom weit entfernten Bauerhof, bequem und warm an sein Ziel bringen? Die Flugzeug- und Autobauer können dann gern Klärwerke bauen. Das macht Spaß und der Markt ist da.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
Ralf Steeg ist Diplom-Ingenieur für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung. Er absolvierte sein Studium an einer der ältesten und renommiertesten Universitäten für Landschaftsarchitektur in Europa und ist seit mehr als 30 Jahren im Bereich der Stadtökologie tätig. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der spannenden Herausforderung des Zusammenlebens von Stadt und Natur, dem Schutz von Ressourcen und der Verbesserung der Lebensqualität in Städten. Bereits 1987 gründete er eines der ersten Büros für Stadtökologie in Deutschland und ist seitdem für öffentliche und private Auftraggeber tätig. Seit 2001 arbeitet Ralf Steeg ausschließlich auf dem Gebiet der Siedlungswasserwirtschaft mit den Schwerpunkten Kläranlagentechnik und storm water management und hat in diesem Bereich eine Reihe von Forschungsprojekten geleitet und neue Technologien entwickelt.
Weiterführende Informationen:
Sandra Prechtel: Der Wassermann. Ralf Steeg und sein Kampf für den sauberen Fluss. F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München 2015.