Was ist eigentlich Berufserfahrung in Zukunft noch wert?
Spielt Berufserfahrung im schnellen Zeitalter der Digitalisierung überhaupt noch eine Rolle oder ist für die Arbeitswelt von morgen nur das frische Wissen der Digital Natives gefragt? Stülpen wir den berufserfahrenen Angestellten 50-Plus heute rigoros die High-Tech-Systeme über und erwarten, dass Sie ab sofort mit ihren Chefs per WhatsApp Rücksprache halten? Sehen wir dabei zu, wie sie in ihren alten Berufen überfordert scheitern und als Jobwechsler im Wettbewerb mit den jungen Hüpfern mit Bachelor-Abschluss ungesehen chancenlos Absagen kassieren?
Ich habe im Bewerbungs-Coaching mit berufserfahrenen Jobwechslern heute oftmals dieses Gefühl. Fünf Jahre Berufserfahrung sind erwünscht, das macht die Neuen schnell arbeitsfähig. Darüber hinaus scheint Berufserfahrung mit steigendem Alter an Wert zu verlieren beziehungsweise keinen Nutzen als Grund für höhere Personalkosten mehr zu stiften. Zumindest überall dort, wo Seniorität ansich keinen Wert darstellt. Sind die Erfahrungen von gestern für das, was in unserer Arbeitswelt morgen benötigt wird, etwa nicht mehr von Relevanz?
Die Folgen: Arbeitgeber, die lieber zu günstigen Jobeinsteigern greifen als erfahrene alte Hasen teuer zu bezahlen. Die guten Gewissens im ersten Rutsch automatisiert Bewerbungen nach Geburtsdatum aussortieren, ohne die echten Kompetenzen jemals geprüft zu haben.
Und auf der anderen Seite: Mitten im Berufsleben stehende Angestellte und Führungskräfte, die alles das nicht mehr erkennen, was sie neben antrainiertem Fachwissen vor allem auszeichnet. Die es vergessen haben, im Alltag auf ihren reichen Erfahrungsschatz zuzugreifen und sich im Wettbewerb am Arbeitsmarkt verunsichert unter Wert verkaufen.
Es wird Zeit, dass alles das, was Berufserfahrung abseits von Trends nach wie vor wertvoll macht, bei allen Akteuren des Arbeitsmarktes wieder stärker ins Bewusstsein rückt. Denn auch diese 15 nicht-digitalen Kompetenzen werden in Zukunft maßgeblich darüber entscheiden, wie Unternehmen geführt, Teams gut zusammenarbeiten und Ziele erfolgreich erreicht werden:
15 nicht-digitale Kompetenzen, die Berufserfahrung auch in Zukunft wertvoll machen
1. Gespür für politische Gemengelagen
Sie haben in Ihrer Karriere schon viel politisches Spiel sowohl im Management als auch unter Kollegen erlebt. Sie erkennen schnell die unterschiedlichen Lager in einem Unternehmen, wer mit wem sympathisiert und an welchen Fronten fair oder unfair gekämpft wird. Sie wissen, wo Sie sich einmischen oder besser aus solchen Politik- und Machtspielen heraushalten sollten.
2. Diplomatisches Geschick
Sie haben ein Gespür dafür entwickelt, auf welchen Hierarchieebenen Sie sich wie richtig bewegen. Sie kennen die typischen Fettnäpfchen und haben es gelernt, einen Bogen um sie zu machen. Sie wissen, wann es besser ist, zu schweigen, als den Mund aufzumachen. Und wenn Sie sich einmischen, dann gelingt es Ihnen, den richtigen Ton zu treffen.
3. Adressatengerechte Kommunikation
Sie bewegen sich auf sämtlichen Hierarchieebenen sicher und können Ihre Kommunikation entsprechend anpassen. Sie fangen nicht an zu stottern, wenn Sie der Vorstand nach Ihrer Meinung fragt und Sie können auch dem Nerd in der IT verständlich Ihre fachlichen Anforderungen vermitteln. In häufig wechselnden Projekt- oder Team-Zusammensetzungen begegnen Sie Ihrem Gegenüber korrekt.
4. Interkulturelle Erfahrungen
Sie haben gelernt, Ihre Kommunikation auch auf unterschiedliche Kulturkreise anzupassen. Durch Ihren Austausch mit internationalen Geschäftspartnern wissen Sie, dass Sie Asiaten anders begegnen und ansprechen als Amerikaner. Sie können sich souverän auf internationalem Parkett bewegen und haben Ihre Sprachkenntnisse in den letzten Jahren im Beruf sukzessive ausgebaut.
5. Ruhe und Gelassenheit
Sie haben in Ihrer Berufslaufbahn schon viel erlebt, da bringt Sie so schnell nichts mehr aus der Ruhe. Ihr Verstand hat gelernt, dass Sie jede noch so schlimm anmutende Krise am Ende überleben und sich die Welt am nächsten Tag weiter dreht. Sie wissen, dass Sie schwierige Situationen mit Gelassenheit besser meistern und sind heute darin geübt.
6. Erfahrung mit Prozess- und Struktur-Veränderungen
Sie haben bereits etliche Change- und Reorganisationsprojekte hinter sich und in Ihrer Karriere schon mehrmals das Kästchen im Organigramm gewechselt. Sie können sich schnell auf neue Prozesse und Softwareprogramme einlassen und sehen Veränderungen nicht als Bedrohung, sondern gelassen als einen weiteren Schritt von vielen, die bereits hinter Ihnen liegen.
7. Priorisierung von Aufgaben
Sie haben gelernt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Sie haben ein Gespür dafür entwickelt, zu erkennen, was Ihren Vorgesetzten besonders wichtig ist und können Ihre Aufgaben entsprechend priorisieren. Und wenn Sie nicht wissen, welche Relevanz übertragene Aufgaben haben, dann fragen Sie einfach nach, um Klarheit über die Erwartungshaltung zu gewinnen.
8. Koordinations- & Organisationsvermögen
Sie haben in Ihrem Leben bereits viele komplexe Herausforderungen gemeistert. Es gelingt Ihnen, schwierige Sachverhalte in einzelne Aufgabenpakete herunter zu brechen und Lösungswege hierfür zu entwickeln. Sie wissen, wer für was zuständig ist, wo Sie Leistungen in Anspruch nehmen können, um die Umsetzung zielgerichtet zu koordinieren.
9. Das große Ganze sehen
Sie können über den Tellerrand hinaus sehen. Sie erkennen Abhängigkeiten zu benachbarten Themen und können Zusammenhänge herstellen. Sie wissen, welche übergreifenden Auswirkungen es hat, wenn Sie an einer kleinen Stellschraube in Ihrem Aufgabenbereich drehen. Sie können Ihnen übertragene Aufgaben in den Wertschöpfungsprozess einordnen und erkennen den Sinn für Unternehmen, Kunden und Ihr eigenes Handeln.
10. Führungskompetenz
Sie haben entweder bereits Mitarbeiter geführt oder aber indirekt Führungskompetenzen erworben, etwa durch Ihre Mitarbeit in Projekten, die Anleitung von Praktikanten oder die Einarbeitung neuer Kollegen. Sie wissen, wie Sie sich selbst und andere Menschen motivieren. Sie können sich auf unterschiedliche Persönlichkeiten einstellen und Aufgaben individuell delegieren.
11. Umgang mit Konflikten im Team
Sie haben in den letzten Jahren viele Konflikte im Team erlebt und erfahren, wie sie überwunden und auch gelöst werden konnten. Sie kennen Ihre bevorzugte eigene Rolle im Team und wissen, wie Sie sich in bestimmten Situationen verhalten oder in neuen Teams richtig positionieren.
12. Beziehungen aufbauen und Vertrauen schaffen
Sie haben mit vielen Vorgesetzten und Kollegen unterschiedlicher Persönlichkeit zusammen gearbeitet. Sie wissen heute, wer wie tickt und wie Sie welchen Persönlichkeiten am besten begegnen. Sie sind erfahren darin, gute Beziehungen zu Menschen in Ihrem Umfeld aufzubauen. Sie wissen, wem Sie vertrauen können und wo Sie vorsichtig sein sollten. Ebenso gelingt es Ihnen durch Ihre empathischen Fähigkeiten, dass andere Menschen schnell Vertrauen zu Ihnen aufbauen.
13. Sparringspartner für Vorgesetzte
Ihre Berufserfahrung macht Sie zu einem wertvollen Gesprächspartner für Vorgesetzte und Kollegen. Durch Ihren fachlichen Erfahrungsschatz können Sie Neues bewerten und Altes reproduzieren. Besonders für jüngere Kollegen und Führungskräfte ist Ihr Wissen über die Vergangenheit von Unternehmen, Produkten, Prozessen und Strukturen von hohem Wert.
14. Achtsamer Umgang mit sich selbst
Sie wissen, was Ihnen im Beruf und auch im Leben heute wichtig ist. Sie kennen Ihre Werte und Ziele und können auch „Nein“ sagen, wenn Entwicklungen in die falsche Richtung laufen. Sie haben gelernt, Ihren Weg zu verfolgen und bei Bedarf auch anzupassen. Sie lassen sich weniger fremdbestimmt steuern, sondern entscheiden mit, was Ihnen gut tut, Sie motiviert und im Beruf gesund hält.
15. Selbst-Bewusstsein und Stolz
Ihre Berufserfahrung macht Sie stark. Sie wissen, was wirklich im Beruf zählt und wie der Hase läuft. Sie kennen Ihre eigenen Stärken und Schwächen und wissen, mit diesen gut und gesund umzugehen. Alle diese Eigenschaften und Kompetenzen helfen Ihnen, neue Situationen und Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Ihre Flexibilität und Reaktionsfähigkeit sind stark ausgeprägt. Neben Ihrem Fachwissen können Sie sich auf Basis der vielen Erfahrungen und Erlebnisse in Ihrem Leben auch auf Ihren Bauch und Ihre gute Intuition verlassen.
Berufserfahrung: Wertvoll ist, was Sie wertschätzen
Was geht Ihnen gerade durch den Kopf, nachdem Sie diese 15 Punkte gelesen haben?
Vielleicht trifft nicht jeder der Punkte auf Ihre Berufserfahrung zu, doch ich bin mir sicher, dass Sie bei vielen der aufgeführten Kompetenzen "Ach ja, stimmt, das kann ich gut." gedacht haben.
Ist Ihnen bewusst, welchen Wert Ihre Berufserfahrung für Sie selbst und auch Ihren Arbeitgeber hat? Ist Ihnen bewusst, was Sie als Berufserfahrene von einem jungen Berufseinsteiger unterscheidet? Was können Sie besser und worin sind junge Menschen heute besser? Viele sehen nur das, worin andere stärker sind.
Wertschätzen Sie wieder, was Ihre Berufserfahrung wertvoll macht!
Besonders für die neuen Formen der Zusammenarbeit in unserer zunehmend komplexen und dynamischen Arbeitswelt sind es aus meiner Sicht besonders solche Erfahrungen und Kompetenzen, wie etwa Flexibilität, Achtsamkeit oder schnell gute Beziehungen zu Menschen aufbauen und pflegen zu können, die in Zukunft benötigt werden.
Wer sagt, dass Digitalisierung nur mit Digital Natives der Generation Y möglich ist und Arbeitnehmer 50-Plus auf dem Abstellgleis besser aufgehoben sind? Ich halte das für einen großen Denkfehler, denn besonders die Kombination aus reicher Erfahrung und frischem Denken im Team erzeugt gute und vor allem auch realisierbare Lösungen für die Zukunft.
Fünfzig ist heute zu jung fürs Abstellgleis!
Geben wir als Gesellschaft Berufserfahrenen in ihrer Lebensmitte das Gefühl, alles das habe keinen Wert mehr, dann vernichten wir wertvolle Ressourcen statt sie aktiv zu nutzen. Zudem steht diese Entwicklung für mich in krassem Widerspruch zu einer sich immer weiter verlängernden Lebensarbeitszeit. Manche Bewerber mit Mitte 40 glauben heute fest daran, dass sie keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben, denn sie spüren es im direkten Wettbewerb um Positionen. Das ist Wahnsinn, wenn wir gleichzeitig die Rente mit 73 diskutieren.
Was wird aus den heute und morgen 50-Jährigen mit diesem Bewusstsein? Sollen sie über 20 Jahre in ihren jetzigen Jobs auf der Stelle treten, wenn wir ihrer Berufserfahrung keinen Wert beimessen und Arbeitgeber immer weniger bereit sind, hierfür zu zahlen? Es ist für mich verständlich, dass sich Berufserfahrene in der Lebensmitte als zweite Wahl fühlen – dies selbst spüren und entsprechend geschwächt im Arbeitsmarkt auftreten.
Mangelnde Motivation führt zu Dienst nach Vorschrift führt zu Krankheit führt zu Ausfall und Kosten im Unternehmen - und in unserer Volkswirtschaft. Eine wie ich finde beängstigende Entwicklung, die es gilt, ebenso in einer Initiative "Arbeiten 4.0" zu hinterfragen und für die Zukunft der Arbeit zu klären.
Berufserfahrung braucht eine neue Relevanz in der Arbeitswelt von morgen
Beide Seiten sind heute gefragt, langjährige Berufserfahrung und die durch sie erworbenen Kompetenzen vor dem Hintergrund von Lebensarbeitszeit und der Anforderungen einer veränderten Arbeitswelt von morgen neu zu bewerten:
Berufserfahrene müssen wieder erkennen, welchen Wert Lebens- und Berufserfahrung in Relation zu frischem Fachwissen haben, auf diese Kompetenzen im Beruf bewusst stärker zugreifen und sie als Bewerber auch selbtbewusster herausstellen.
Arbeitgeber und Personalentscheider in Unternehmen sollten sich zusätzlich fragen, welche Kompetenzen sie für welche Positionen wirklich benötigen, welche Rolle Berufserfahrung in ihren HR-Strategien spielt, und eine neue Haltung gegenüber berufserfahrenen Arbeitnehmern einnehmen, um dem Wandel in der Arbeitswelt sowie der demographischen Entwicklung gerecht zu werden. Manche haben es bereits erkannt und holen sogar ihre Ruheständler zurück, um wertvolles Erfahrungswissen zu nutzen.
Was ist Ihre Meinung? Welchen Wert hat Berufserfahrung für Sie und welche Relevanz messen Sie den aufgeführten 15 Kompetenzen für die Zukunft der Arbeit bei?
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