Wein und Wahrheit: Was uns wirklich reifen lässt
Monat der Weinernte
Der September ist der Monat der Weinernte, aber auch ein Monat des Nachdenkens und Vorsorgens. Am Thema Wein lässt sich besonders gut zeigen, was Nachhaltigkeit wirklich bedeutet und welche symbolische Kraft darin verborgen ist. Die „Weinlese“ lässt sich gerade jetzt auch sehr gut mit dem Lesen verbinden. Eine passende Lektüreempfehlung ist Tom Hodgkinsons „Schöne alte Welt“. Der Titel spielt auf Huxleys „Schöne neue Welt an“ und bringt zum Ausdruck, dass die alte Welt „schöner, weil aufrechter und wackerer war als unsere.“ Hodgkinson betrachtet jeden Wein als den besten, „der ohne Konservierungsstoffe bleiben kann, und es sollte auch überhaupt nichts hineingemischt worden sein, was seinen natürlichen Geschmack überlagert; denn der Wein ist am vortrefflichsten, der durch seine eigene natürliche Qualität Genuss bereitet hat“. Philosophisches, Lebenspraktisches und Literarisches sind hier auf nachhaltige Weise verbunden.
Unter den Bio-Weinen gibt es viele gute Produkte, die sich auch der normale Konsument leisten kann. Vor einigen Jahren wurden Ökopioniere wie Gerhard Roth in Wiesenbronn noch belächelt, weil sie Bio-Wein angebaut haben. Heute ist es selbstverständlich. So berichtete der Bayerische Rundfunk vor einigen Jahren in seiner TV-Dokumentation „Landfrauenküche“ über die Agraringenieure Linda und Erhard Haßold, die seit 1991 nach den Richtlinien des ökologischen Landbaus wirtschaften und Mitglied im Anbauverband "Naturland" sind. Angeboten werden Weißweine, Rotweine, Rosé, Rotling und Secco jahrgangs- und sortentypisch. Bio-zertifizierte Wein-Sortimente werden auch online von zahlreichen Öko-Versendern angeboten. Auch aus dem französischen Languedoc stammen Bio-Weine ohne Pestizide, synthetischen Dünger oder sonstige Chemie (Quelle: memolife).
Salvador Dalís magische Botschaft
Weinranken sind mit der menschlichen Chronologie eng verschlungen: die Geschichte des Weines zu erzählen bedeutet gleichzeitig, vom Menschen und seinen Genüssen zu berichten. „Essen und Surrealismus sind ideale Bettgesellen“, heißt es im Begleittext zum Kochbuchbestseller „Les Diners de Gala“ von Salvador Dalí. So wird es der spanische Maler und Exzentriker (1904-1989), der mit zehn Jahren Köchin werden wollte, vermutlich selbst gesehen haben, denn von ihm stammt der Satz: „Die Schönheit wird essbar sein oder gar nicht sein.“ Der Nachfolgeband des Künstlers, „Die Weine von Gala“, schildert die Wonnen der Weintraube aus typischer Dalí-Sicht, versucht sich an seiner Klassifizierung „nach den Empfindungen, die sie ganz tief in unserem Inneren auslösen“, und lädt mit Kategorien wie „Weine der Wollust“, „Weine des Unmöglichen“ und „Weine des Lichts“ und zur literarischen Verkostung ein. Das multisensorische Manifest des guten Geschmacks ist im besten Wortsinn „berauschend“. Unter den mehr als 140 Illustrationen Dalís finden sich zahlreiche Adaptionen klassischer Kunstwerke.
Dieses Buch ist nicht nur ein Fest der Sinne – es zeigt zugleich die Komplexität unserer Welt, deshalb sollten auch Unternehmen und Organisationen einen Blick hineinwerfen, denn hier spiegelt sich zugleich ihr Umfeld, das sie scheinbar im Griff zu haben scheinen und am Ende vor einer großen Überraschung stehen, in die sie nicht eingreifen können: „Unter allen Himmeln ist eine Landschaft mit Weingärten eine beruhigende Landschaft. Alles erscheint ausgerichtet, geeicht und abgemessen. Hier gibt es nur gepflegte Terrassen und anmutige Kurven, von Tausenden von Furchen durchzogen oder mit Weinpfählen wie für eine nicht enden wollende Parade abgesteckt. Eine solche Ordnung sollte den Zufall ausschließen!“
Das Buch zeigt, dass dies ein Irrtum ist, denn der Wein ist „ein Sohn des Zufalls, und zwar in dem Maß, dass er sich nie gleicht. Zwischen prächtig und kümmerlich, ausgelassen und diskret hin- und herschwankend wirft er gerne alle Voraussagen über den Haufen.“ Die Mühen sind jedes Jahr gleich, aber das Wetter zwingt jedem sein Gesetz auf. Das macht auch unser Komplexitätszeitalter aus, in dem noch ein weiterer Aspekt des Buches an Bedeutung gewinnen sollte: Handwerk, Können und Meisterschaft. Das Buch wird geprägt durch die Gemeinschaftstugenden der Weinbauern: Geduld, Liebe und Arbeit. Der Rebhandwerker „weckt einzig durch seine Hände die gewaltigen Kräfte der Natur.“ Das Schlusswort ist eine wunderbare Nach-Lese, in der beschrieben ist, was es braucht, um einen großen Wein zu schaffen:
• einen Irren, der den Rebstock pflegt,
• einen Weisen, der ihn zähmt,
• einen klarsichtigen Poeten, der ihn erschafft,
• einen Verliebten, der ihn trinkt.
Die letzte Süße im schweren Wein
Dass aus dem Tod unter Gottes Händen neues Leben entsteht, erzählt schon das Wunder der Hochzeit zu Kana aus dem Johannesevangelium. Der Wein auf dieser Hochzeit symbolisiert das Leben der Menschen und seine Begrenztheit. Sie sind als Gefäße geschaffen, die Gott mit seinem Leben füllen möchte. Doch die Krüge werden erst mit Wasser gefüllt, das hier auch Tod bedeutet. Jesus lässt es zu, dass im Leben erst einmal das Maß voll werden muss. Blut ist Leben. Das wird besonders deutlich, wenn das Blut erkrankt. In seinen letzten Lebensjahren leidet der Dichter Rainer Maria Rilke an unheilbarer Leukämie. Er spürt die körperliche Veränderung zum Tode am eigenen Leib. Doch auch am Weinstock verdorren die Blätter, wenn die Rebe reif geworden ist.
Die Berge des Wallis und die Regionen des drohend kalten Schnees bleiben Rilke, der lieber im Tal ist, unbekannt und verschlossen. Kalte Gebirge ohne "gewohntes Wachstum" sind ihm "wider die Natur". Muzot, ein Stückchen den Hang hinauf, in die Weinberge hinein, ist ihm genug. So verlässt Rilke von Februar 1922 bis Mai 1923 seinen geliebten poetischen Ort nur zweimal. 1923 entstehen hier seine „Sieben Entwürfe aus dem Wallis“ und „Das kleine Weinjahr“. Der inzwischen verstorbene Schweizer Historiker Jean Rudolf von Salis besucht den Dichter 1924 in Muzot. Anfang 1993 erinnert er sich in einem Gespräch mit der Schriftstellerin und Journalistin Klara Obermüller an die Begegnung mit Rilke, der mit erdigen Fingern seine Verse im Rebenlicht schrieb: "Es war wirklich ländlich dort. Rilke liebte die Reben, er liebte die Rosen, er pflegte den Garten, er war überhaupt ein Mensch, der gern mit der Hand arbeitete."
Für Rilke war der Umgang mit Blumen und Reben mehr als nur Sprache des Jahres - aus ihnen steigt ein "buntes Offenbares". Reben gleichen Sonnenkollektoren, sie leben und gedeihen im Licht der Sonne. An den Rebstöcken, die zur gelungenen Symbiose von Sonne und Boden, von Himmel und Erde führen, reift seine Botschaft. Wer sie kennt, kennt den Grund aller Dinge, den Sinn des Lebens als auch seines Endes. Anfang Oktober 1925 hindert ein quälendes Mundleiden, eine schmerzhafte Bläschenbildung an den Schleimhäuten, Rilke am Sprechen und weckt in ihm die Angst, er könne an Krebs leiden. Seiner Todeskrankheit haftet etwas Mystisch-Verklärendes an: Im Herbst 1926 verletzte er sich beim Rosenschneiden in seinem Garten so heftig an den Dornen, dass er bald an einer Infektion erkrankte. Am 30. November suchte er zum letzten Mal Val-Mont auf. Die sofort vorgenommene Blutuntersuchung zerstört jede Hoffnung auf Heilung. Anfang Dezember wird sein Leiden als eine äußerst seltene, besonders bösartige Leukämie diagnostiziert. Rilke stirbt, kaum noch 50 Kilogramm wiegend, am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Val-Mont bei Montreux. Sein berühmtes und viel zitiertes Gedicht „Herbsttag“ beschreibt in einer Vorahnung des Todes die Zeit der Vollendung, der Weinlese und der Ernte:
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Kein Statussymbol dieser Welt kann das, was ein vollendetes nachhaltiges Leben ausmacht, zum Ausdruck bringen. Manager könnten viel von Dichtern lernen, wenn sie sich nicht nur der Wein-Lese widmen.
Der Trend geht zum Eigenheim mit eigenem Wein
„Ich habe ein Weingut in der Toskana.“ Dieser Satz erinnert an „Ich habe eine Farm in Afrika.“ Baronin Karen von Blixen-Finecke sagte ihn nur zweimal im Spielfilm von Sydney Pollack „Jenseits von Afrika“ (1985) mit Meryl Streep und Robert Redford. Dennoch bleibt er unvermindert im Bewusstsein wie: „Mein Name ist Bond, James Bond“ (Manfred Klimek). Wein ist heute das neue Statussymbol der Wirtschafts- und Medienelite. Auf die Frage, was er macht, wenn er in Rente ist, antwortete der ehemalige adidas-Chef Herbert Hainer einmal: „… es war schon immer mein Traum, einen Weinberg zu besitzen. Allerdings sollte der Weinberg nicht in der Toskana oder sonst irgendwo weit weg liegen.“ (FOCUS, 29/2015), denn auch Deutschland ist ein großer Weinproduzent und nimmt Platz zehn beim Ranking der weltweit größten Weinhändler ein. Auch Hartmut Mehdorn ist Winzer in Frankreich geworden, wo er „La Cabane, der Rote aus der Hütte vom Hobbywinzer Mehdorn“ präsentiert. Heute wird weniger Wein getrunken, aber dafür besser, bestätigt Baron Éric de Rothschild (FOCUS 37/2015), der nicht von billigen und teuren Produkten spricht, sondern von guten und schlechten.
Weiterführende Literatur:
Dalí. Die Weine von Gala. Von Salvador Domenech Philippe Hyacinthe DALI von der königlichen Akademie San Fernando, Madrid. TASCHEN Verlag. Köln 2017.
Alexandra Hildebrandt: Rainer Maria Rilke: Von einem, der die Steine belauscht: Bausteine einer Biografie. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Tom Hodgkinson: Schöne alte Welt. Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Land. Rogner & Bernhard GmbH & Co. KG, Berlin 2011.
Manfred Klimek: So lasst uns denn einen Weinstock pflanzen. In: brand eins (9/2015).
Rainer Maria Rilke: Mitten im Leben schreib ich Dir. Ausgewählte Briefe. Hrsg. von Rätus Luck. Frankfurt a. M. 1998.
Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Leipzig 1912.
Rolf Vollmann: Die schönen Schweizerinnen. Auf Rilkes Spuren im Wallis. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 186 (12.8.2000).