Wie Freiberufler die beste Version ihrer selbst werden
In den vergangenen Jahren hat sich die Art und Weise, wie wir heute leben und arbeiten, durch digitale Transformation und disruptive Technologien rasant verändert. Heute wird von einer Welt der Unbeständigkeit, der Ungewissheit, der Komplexität und der Mehrdeutigkeiten gesprochen. Doch was braucht es, um sich in dieser VUKA-Welt zurechtzufinden und die Zukunft nachhaltig erfolgreich zu gestalten? Immer mehr Menschen werden den Sprung in die Selbstständigkeit wagen, denn schon jetzt ist ein Sinnes- und Wertewandel in Richtung Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, Kreativität und Schaffung von Freiräumen zu erkennen. Der Ursprung des Wortes „kreativ“ geht auf das lateinische „creare“ zurück, was so viel bedeutet wie etwas neu schöpfen, erfinden, aber auch auswählen. Kreative Menschen haben meist eine Idee oder ihnen „fallen Ideen ein“.
Im unternehmerischen Bereich ist dies die Innovation – das Umsetzen einer Idee in einen Markterfolg. Neben Konzentrationsvermögen, Disziplin und Fleiß geht es hier um ein klares Augenmaß für das Wesentliche, richtiges Einschätzen um das Machbare und den guten Zeitpunkt für die Idee. Immer weniger Menschen wollen akzeptieren, dass Hierarchien, mehrstufige Managementstrukturen und Genehmigungsschritte ihre Ideen bereits im Keim ersticken. Hinzu kommt, dass die Lebensstile immer individueller werden – es geht darum, die beste Version seiner selbst zu werden. Die Sehnsucht nach Selbstbestimmtheit und Überschaubarkeit des eigenen Handelns hat auch damit zu tun, wieder zu sich selbst kommen zu wollen.
So war es auch bei Martina Flor, die mit ihrer Arbeit maßgeblich dazu beigetragen hat, Lettering-Design in der europäischen Design-Szene bekannt zu machen: Sie wuchs in Buenos Aires auf, wo sie auch Grafikdesign studiert hat und viele Jahre als Illustratorin und Art Director arbeitete. Nach ihrem Master in Type Design an der KABK in Den Haag gründete sie in Berlin ihr Studio. Spezialisiert auf Lettering und Schriftgestaltung, arbeitet sie heute für Verlage, Agenturen und Privatkunden. Sie ist Mit-Initiatorin des Online-Wettkampfes „Lettering vs. Calligraphy“ sowie weiterer Projekte, wie die Postkartensammlung „Letter Collections“. Ihre Lettering-Workshop-Reihe „GoodType“ gibt es auch mehrsprachig auf verschiedenen Online-Plattformen. Als Selbstständige entscheidet sie selbst, welche Jobs sie annimmt und welche nicht. Sie arbeitet im eigenen Rhythmus und setzt eigene Prioritäten. Von ihrer Tätigkeit kann sie sehr gut leben.
Ihr Beispiel zeigt aber auch, dass sich Kinder und Karriere nicht ausschließen, wenn die eigene Selbstständigkeit solide geplant und gelebt wird. Darüber schreibt sie in ihrem Buch „Spring! Der Traum vom erfolgreichen eigenen Atelier — und der sichere Weg dorthin“. Darin gibt sie einen Überblick über das, was auf Kreative nach der Selbständigkeit alles zukommt: Pricing und Angebotserstellung, Kundenakquise, Selbstmarketing, Finanzmanagement, Angebote, Briefings, Einschränken und Verlängern von Nutzungsrechten, Finanzmanagement und Zeitplanung.
Denn im Studium und in den ersten Berufsjahren wird Kreativen zwar viel über Handwerk und Techniken vermittelt, sie entwickeln ihren eigenen Stil, entdecken und nutzen ihre Talente und Kompetenzen. Doch wird ihnen kaum etwas über den wirtschaftlichen Aspekt ihrer kreativen Arbeit vermittelt. Das wird ihnen dann bewusst, wenn sie davon leben müssen. Viele haben nicht gelernt, ihre Leistung angemessen zu verkaufen und tun sich schwer, die Qualität der eigenen Arbeit und die engagierte Person dahinter angemessen zu bewerben und zu verkaufen.
Um all dies zu lernen und die Sorge vor der Selbstständigkeit zu nehmen, muss schon viel eher – bei den Kindern – angesetzt werden. „Sie sollten bereits früh die größtmögliche Freiheit für Erfahrungen und die notwendigen Grundlagen für ein fundiertes Wissen und damit später dann Können erhalten“, sagt die Nachhaltigkeits- und Kommunikationsexpertin Claudia Silber, die hauptberuflich die Unternehmenskommunikation bei der memo AG leitet. Die sogenannten „Helikopter-Eltern“ geben ihren Kindern deshalb ihrer Meinung nach nichts Gutes mit auf den (Lebens-)Weg.
Auch das Bildungssystem ist kritikwürdig, denn nach wie vor herrschen hier sehr starre Gerüste: „Auf Jahre oder sogar Jahrzehnte festgelegte Lehrpläne verhindern sowohl bei Schülern als auch bei Lehrern die Lust aufs Lernen und den Durst nach Wissen.“ Das Selbstlernen von jungen Menschen kann durch die Förderung von Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit, Kreativität und Mut gefördert werden. Außerdem müssen bereits in der Schule die Fähigkeiten jedes jungen Menschen erkannt und gefördert werden. Nur dadurch ergreifen sie dann einen Beruf, der ihnen ein Leben lang Freude macht und zu dem sie dann auch „berufen“ sind. Sie plädiert für eine Förderung der Kreativität, der Neugier auf Neues und das individuelle Können jedes einzelnen. Meister ihres Fachs sind für sie Menschen, die ihr Handwerk beherrschen und es nicht nur als Beruf, sondern als Berufung sehen. All das macht Martina Flor auf persönliche Weise buchstäblich greifbar.
Martina Flor: Spring! Der Traum vom erfolgreichen eigenen Atelier — und der sichere Weg dorthin. Übersetzung von Julia Gilcher. verlag hermann schmidt, Mainz 2020.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.