Wie kann gesellschaftlicher Zusammenhalt in herausfordernden Zeiten gestärkt werden?
Der „Kitt“, der eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, wird heute durch den Trend zur Polarisierung sowie wirtschaftliche und soziale Ungleichheit immer mehr aufgeweicht. Verstärkt wird dieser Prozess auch durch soziale Medien und die von ihnen erzeugten Filterblasen, die zu Abschottung, Vorurteilen und Ausgrenzung führen. Sie finden vor allem in Räumen statt, die von bestimmten sozialen Gruppen bewohnt werden, die dazu tendieren, unter sich zu bleiben. Sie betrachten ihre Weltsicht als gegeben und ihre Entscheidungen oder Urteile als alternativlos. Im Gegensatz zu Einzelpersonen sind es vor allem Gruppen, die noch anfälliger für den "confirmation bias" sind. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich innerhalb der Gruppe niemand gern gegen die Gruppe stellt. All das führt dann dazu, dass sich die Gruppenmitglieder gegenseitig bestärken und dies auch demonstrativ nach außen zur Schau stellen (mehr dazu in: „Bauchgefühl im Management“). Doch auch die Politik bietet enormes Spaltungs- sowie Polarisierungspotential. Eine schlechte zivilgesellschaftliche Infrastruktur führt ebenfalls dazu, dass sich Menschen nur noch mit jenen austauschen, die ihnen ähnlich sind. Die aktuellen Ergebnisse der Bertelsmann-Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023: Perspektiven auf das Miteinander in herausfordernden Zeiten“ spiegeln die Belastungen und Verunsicherungen der verschiedenen Krisen unserer Zeit wider. Betrachtet werden neun unterschiedliche Dimensionen, die sich in drei größere Bereiche gruppieren lassen:
1. Soziale Beziehungen
Stärke und Belastbarkeit der sozialen Netze
Vertrauen in die Mitmenschen
Akzeptanz von Diversität
2. Verbundenheit mit dem Gemeinwesen
Identifikation mit dem Gemeinwesen
Vertrauen in Institutionen
Gerechtigkeitsempfinden
3. Gemeinwohlorientierung
Solidarität und Hilfsbereitschaft
Anerkennung sozialer Regeln
Gesellschaftliche Teilhabe.
Demografische Faktoren: In Regionen mit einer wachsenden und jungen Bevölkerung ist der Zusammenhalt ebenfalls durchschnittlich stärker als in schrumpfenden und alternden Regionen.
Auf regionaler Ebene zeigt sich, dass Regionen, die sich stärker in Richtung einer modernen Dienstleistungsgesellschaft entwickelt haben, durchschnittlich etwas besser abschneiden als rein industriell geprägte Regionen.
Eine vielfältige, sich wandelnde Gesellschaft vor allem in Krisenzeiten zusammenzuhalten, bedeutet indes, an komplexen Lösungen und langfristigen Strategien zu arbeiten, miteinander Kompromisse auszuhandeln und Unterschiede zu ertragen, statt sie einzuebnen.
Auffällig ist die weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie und der Handlungsfähigkeit der Politik. Es braucht deshalb eine transparente und glaubwürdige politische Kommunikation, die Orientierung gibt. Gleichermaßen erhalten Extremismus, Verschwörungserzählungen und Desinformationen weniger Raum, ihre Wirkung zu entfalten.
Die gegenwärtigen Krisen haben Spuren in der Gesellschaft hinterlassen und den sozialen Zusammenhalt beeinträchtigt.
Die Stärke des gesellschaftlichen Zusammenhalts hängt vor allem von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in einer Region ab: Wo der Wohlstand größer ist und das Armutsrisiko geringer, fällt auch der gesellschaftliche Zusammenhalt stärker aus.
Ermöglichung von Teilhabe: Die Gruppenunterschiede verweisen darauf, dass die direkte soziale Einbindung vor Ort sowie die Möglichkeit, sich für die eigenen Belange einzusetzen, mit stärkerem gesellschaftlichem Zusammenhalt einhergehen. Isolation, Einsamkeit, Benachteiligungsgefühle und eine gering ausgeprägte Selbstwirksamkeitserfahrung hingegen können Entfremdung und Radikalisierung zur Folge haben. Ein besonderer Fokus sollte auf die lokale soziale Infrastruktur gelegt werden, mit dem Ziel, flächendeckend ein vielfältiges und aktivierendes Teilhabeangebot zu ermöglichen.
In allen Bereichen wird ein Rückgang der Werte verzeichnet: Die geringsten Verluste zeigen sich in den Dimensionen Gesellschaftliche Teilhabe, Vertrauen in Institutionen und Gerechtigkeitsempfinden. Am stärksten haben die Dimensionen Solidarität und Hilfsbereitschaft, Akzeptanz von Diversität und Identifikation verloren. Insgesamt erreicht die Dimension Akzeptanz von Diversität die höchsten und die Dimension Gerechtigkeitsempfinden die geringsten Werte. Der Rückgang findet sich in allen untersuchten Bundesländern.
Ein gelingender gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eine nachhaltige Ressource, die sich gerade in Zeiten großer Herausforderungen auszahlt und bei der Bewältigung von Krisen und Transformationen helfen kann. Umgekehrt kann ein geschwächter Zusammenhalt, der nachhaltig beansprucht wird und sich nicht erholen kann, zu einer Bürde werden.
Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der individuellen sozioökonomischen Lage und dem erlebten Zusammenhalt sowie zwischen strukturellen wirtschaftlichen Gegebenheiten und dem regionalen Zusammenhalt - ein Zeichen dafür, dass die Verbesserung der Lebenschancen benachteiligter Gruppen, der Einsatz gegen Armut und Ungleichheit sowie der Abbau regionaler Unterschiede in der Lebensqualität und Wirtschaftskraft zu einem starken Zusammenhalt beitragen können.
Die Vielfalt der Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, um eine Gesellschaft nachhaltig zusammenzuhalten, erfordert breite interdisziplinäre Ansätze. Das von Sylvia Herrmann und Johannes Crückeberg herausgegebene Buch „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Praxis“ schließt eine bestehende Lücke zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und praktischer Umsetzung, die vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Polarisierung besonders relevant ist. Gezeigt werden Zusammenhänge auf europäischer Ebene, aber auch lokale Besonderheiten (z.B. in Ost und West). Ein spezieller Fokus liegt auf dem sozialräumlichen Zusammenhalt vor allem in kleinen Einheiten wie Dörfern oder Stadtvierteln. Da die lokalen Gegebenheiten überall unterschiedlich sind, und der gesellschaftliche Zusammenhalt vielschichtig und komplex ist, dienen die ausgewählten Beispiele auf der lokalen Ebene nur als Anregung, die eigene Situation damit zu vergleichen und zu prüfen, ob die entsprechenden Lösungsansätze für die eigene Situation angewendet werden können.
Ermöglichung lokaler, generationenübergreifender Begegnungen
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger (Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse)
Förderung von Eigenverantwortlichkeit
Schaffung lokaler Kooperationsstrukturen und Netzwerke
Aufwertung von Plätzen und Orten
Nachhaltige Prozess- und Regionalentwicklung
Respekt gegenüber anderen Gruppen
Ermöglichung „Sozialer Orte“ (Ergänzung zu den »Zentralen Orten«, welche die Grundlage für die Siedlungsentwicklung in Deutschland bilden)
Förderung und Unterstützung von Vielfalt und Inklusion.
Die Kommunalpolitik sollte dies, so das Plädoyer des Herausgeberteams, in ihre Planungs- und Entscheidungsprozesse einbeziehen. Sylvia Herrmann ist Privatdozentin an der Leibniz Universität Hannover und war vor ihrem Ruhestand mehr als 35 Jahre in Lehre und Forschung im Bereich Planung an verschiedenen Universitäten in Deutschland tätig. Johannes Crückeberg ist Referent für Kultur und Medien in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuvor forschte und arbeitete er an unterschiedlichen Forschungseinrichtungen zu Kulturpolitik, die ein wichtiges Instrument zur Förderung einer pluralitischen Gesellschaft ist. So nimmt auch die Kultur als Praxis des Zusammenhalts vor Ort einen wichtigen Stellenwert im Buch ein: Sie kennt den Umgang mit Vielfalt, schärft den Blick auf das Andere und Fremde, bietet Gestaltungs- und Spielräume, fördert Kreativität, Empathie und Toleranz und regt zu kritischem Denken und zur Selbstreflexion an.
Sylvia Herrmann (Hrsg.), Johannes Crückeberg (Hrsg.): Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Praxis. Forschungsperspektiven auf das Lokale. Oekom Verlag 2024.
Mehr Gemeinsinn, weniger Egoismus: Was unsere Gesellschaft jetzt braucht
Wie lokale Inklusionsarbeit effektiv und nachhaltig gestaltet werden kann
Böse Stadt, gutes Land? Warum wir Klischees mehr hinterfragen sollten
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2021.