Wie wir Einschränkungen sinnvoll nutzen können?

Das Beste ist die tiefe Stille,

in der ich gegen die Welt lebe

und wachse

und gewinne,

was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können.

Johann Wolfgang von Goethe

Tagebücher. 13. Mai 1780

Wie uns Stille durch die Krise führen kann?

Vieles weißt darauf hin, dass wir in den kommenden Tagen und Wochen unsere sozialen Kontakte einschränken werden. Für einige von uns bedeutet das, dass sie mehr als sonst Zeit mit sich verbringen werden. In den Gesprächen mit meinen Mitmenschen spüre ich mit Blick auf die anstehenden Wochen Unruhe, Unsicherheit und auch Angst. Einer unserer Direktoren sagte zum Beispiel, dass sich mit dem Blick auf die Zukunft über eines unserer Mitarbeiterhäuser eine Wolke der Depression gelegt hat. Die Menschen sind gereizt, die Nerven liegen blank. Was sollen die Menschen bloß tun, wenn wir vorübergehend wieder zuhause bleiben müssen? Wie können wir trotz all der unruhestiftenden Nachrichten (Corona, Brexit, Präsidentenwahl USA,Kurzarbeit) in den kommenden Wochen positiv und aufgerichtet bleiben? Was können wir dafür tun, mental nicht einzuknicken?

Die Frage ist also, wie wir unabhängig von äußeren, schicksalhaften Faktoren ein gutes Leben leben können. „Komme was wolle, es gibt immer eine Möglichkeit etwas sinnvolles zu tun“ ist dabei das Motto. Es geht also darum, aus verbleibenden Möglichkeiten Wirklichkeiten werden zu lassen und sich dabei nicht von Lust oder Unlust und schon gar nicht von schlechten Nachrichten beeinträchtigen zu lassen. Aber welche Möglichkeiten schenken uns denn die anstehenden Einschränkungen?

Innere Einkehr birgt auch Herausforderungen

Mein erster Impuls mit Blick auf die die kommenden Tage ist, dass wir die Zeit, in der wir uns nicht nach draußen bewegen sollen auch dafür nutzen können, innerlich einzukehren. Mich erinnert diese Herausforderung ein bisschen an meinen ersten Klosteraufenthalt, auch wenn de Umstände natürlich andere waren. Als ich vor zehn Jahren das erste Mal im Kloster war, fühlte ich mich nach den ersten drei Tagen besser als nach einem mehrwöchigen Wellnessurlaub. Ganz besonders gut haben mir dabei die Zeiten der Stille getan, wobei für mich der Einstieg in die Meditation besondere Herausforderungen mit sich brachte. Als ich im Zendo des Stadtklosters das erste Mal meditierte, konnte ich die Lautstärke der Stille nicht ertragen. Von außen betrachtet war es im Meditationsraum mucksmäuschenstill, doch diese äußere Stille entzündete in mir ein Feuerwerk unzähliger schon tausendmal gedachter Gedanken, die sich an die Vergangenheit krallten oder an der Zukunft festbissen. Gedanken, die im Wesentlichen identisch mit denen vom Vortag und den Tagen davor waren und die in dem Moment, in dem sie auf meinen Körper trafen, Gefühle wie Unruhe, Angst, Wut und in seltenen Fällen auch einmal ein bisschen Freude auslösten. In der Stille spürte ich, dass ich in der Hektik meines Alltags zum Gefangenen meiner Gedanken geworden war, und das, wo doch die Freiheit mein größter Wert ist.

Struktur durch Pausen

Was mir bei meinen Klosteraufenthalten noch deutlich geworden ist, dass nicht Termine, Telefonate oder Besprechungen den Tag der Benediktiner strukturieren, sondern die Pausen. Hier konnte ich erleben, wie energiespendend es ist, wenn ich nicht von Termin zu Termin hetze, sondern es klare Pausen, klare Zeiten der Stille gibt. Das heißt auch: Egal, womit ich mich gerade beschäftige, wenn die "Glocken zum Gottesdienst" rufen, mache ich mich auf den Weg in die Stille. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ich in meiner Kraft geblieben bin, wenn ich meine Terminplanung für den Tag, die Woche, den Monat oder das Jahr an meinen Pausen und Zeiten der Stille ausrichte. In dem Moment, wo ich diese »Termingesetze« gebrochen habe, bin ich in einen Kreislauf der Fremdbestimmung geraten, der mein Energielevel immer weiter heruntergezogen hat. Ich glaube, dass gerade in den kommenden Wochen eine feste Tagesstruktur das Gefühl der Selbstbestimmung erhöhen wird. Und das gilt besonders auch für unsere Gedanken.

Die Mönche sind Profis im Umgang mit der Stille. Sie wissen um die positiven Auswirkungen der Stille auf die Gesundheit, gerade in turbulenten Zeiten. In unserem Berufsleben ist vielen von uns allerdings dieses Bewusstsein abhandengekommen. Den ganzen Tag sind wir beschäftigt, insbesondere während oder im Zusammenhang mit der Arbeit. In einem Bild beschrieben, sind wir die ganze Zeit damit beschäftigt zu schöpfen. Wir stehen sozusagen vor einem Brunnen, aus dem wir immerzu eimerweise Wasser schöpfen. Irgendwann sind wir erschöpft und sinken zu Boden. Wenn wir aber öfters eine Pause beim Schöpfen einlegen würden, dann würde sich die Wasseroberfläche im Brunnen beruhigen und wir könnten darin unser Spiegelbild erkennen, ein Bild, das uns zeigt, wie es uns gerade geht.

In der Stille begegnen wir uns selbst

Es braucht die Pause, um sich selbst zu erkennen. Aus diesem Grund darf es auf der Liste der dringend zu erledigendem Ding nichts Wichtigeres geben, als im gewohnten Tagesablauf regelmäßig innezuhalten und still zu werden. Immer wieder begegnen mir Menschen, die behaupten, keine Zeit zum Nachdenken zu haben. Doch wenn ich nachfrage, wird deutlich, dass es nicht die Zeit ist, die ihnen fehlt, sondern die Ruhe. In die Stille zu gehen erfordert Mut. In der Stille gibt es keine Ablenkung, kein TV, keine Events, kein Smartphone. In der Stille muss ich mich selbst aushalten, und das ist die größte Herausforderung. Und ich glaube, dass es auch das ist, wovor viele Menschen gerade jetzt Angst bekommen. Keine Beschäftigung zu haben, sich selbst aushalten zu müssen. Denn in der Stille werde ich auf mich selbst zurückgeworfen und mit meinem Schatten konfrontiert. Vom Altvater Antonius, dem Urvater des christlichen Einsiedlerwesens, gibt es Berichte, wie er mit dieser Konfrontation, mit den inneren Mächten – er bezeichnete sie als Dämonen –, den negativen Gedanken umgegangen ist. Er nannte sie beim Namen und fragte: »Wer bist du? Von wo kommst du? Was willst du?«

Das Schöpfen steht hier aber nicht nur für das Handeln, sondern insbesondere auch für das Denken. Es geht also nicht nur darum, körperlich zur Ruhe zu kommen, sondern auch geistig. Wenn wir im Bild des Brunnens bleiben, werden wir sehen, dass die Wasseroberfläche in der Stille immer ruhiger wird, bis wir uns selbst in ihr spiegeln. Es geht immer wieder darum, einen Freiraum zu finden, in dem ich gegenwärtig sein darf und mich der äußeren, manifesten Welt der Gedanken und Formen entziehen, in denen ich meinen Geist aus den Klauen des Verstandes befreien kann und die »Scheinwerfer« meiner Aufmerksamkeit auf mein tiefstes Inneres ausrichte. Und gerade in den nächsten Wochen werden wir wird die Möglichkeit haben, das Einhalten im Schöpfen, die Pause, die Geist und Körper brauchen in unseren Alltag zu integrieren. Der Lockdown macht es möglich. Doch wie beschrieben, fiel es mir zu Beginn meiner Klosterzeit enorm schwer, in die Stille zu gehen. Und auch in unseren Kursen und im Unternehmen erfahre ich Vorurteile, Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit in die Stille führenden Meditation. Es waren eine Frage und ein Bild, die einigen von ihnen dabei geholfen haben, die ersten Minuten der Stille gut zu überstehen. Die immer wiederkehrende Frage lautete: Woran erkennst du diesen Augenblick? Das fokussiert die Menschen auf die Gegenwart, darauf, was sie in diesem Moment wahrnehmen, seien es Gedanken, Gefühle, Geräusche, Gerüche oder körperliche Regungen.

Abwesenheitsnotiz für den Geist

Das Bild, das ich darüber hinaus den Teilnehmern der Meditation angeboten habe, kommt tatsächlich aus der Arbeitswelt: die Abwesenheitsnotiz im Mailprogramm. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass sie eine eingehende Mail in ihren Bann zieht und ihnen vielleicht sogar Druck macht, ganz besonders dann, wenn sie sie lesen, aber nicht gleich bearbeiten können. Dann schwirrt sie unweigerlich in ihrem Kopf herum und raubt ihnen Energie. Wenn sie aber im Urlaub sind und sich erlauben, eine Mail nicht zu lesen oder zu bearbeiten, fällt der Druck weg. Der Grund: Das Aktivieren einer Abwesenheitsnotiz. Sie gibt mir das Recht, jetzt nicht handeln zu müssen, und schenkt mir die Sicherheit, dass kein anderer in diesem Moment von mir erwartet, die Mail innerhalb der nächsten Stunden zu bearbeiten und zu beantworten. In der Stille kann ich mir also vorstellen, eine Abwesenheitsnotiz für meinen Geist als Absender zu aktivieren. Denn während der Sille werde ich genauso Gedanken an die Zukunft oder Vergangenheit haben, die wie Mails während meines Urlaubs in meinem Account eintreffen. Ich kann in meinem Geist formulieren: »Lieber Gedanke, liebe Aufgabe, in den kommenden zwanzig Minuten bin ich im Urlaub und nicht erreichbar. Nach meiner Rückkehr werde ich mich gerne wieder mit dir befassen. Vielen Dank für dein Verständnis.«

Die Mitarbeiter und Teilnehmer gaben mir die Rückmeldung, dass ihnen das durch die Abwesenheitsnotiz bekannte Gefühl dabei geholfen hat, ihre Gedanken zwar wahrzunehmen, sie sich aber nicht dazu verpflichtet fühlten, sich mit ihnen zu beschäftigen. Und genau darum geht es, wenn wir kraftvoll und voller Energie bleiben wollen: der Fähigkeit zu entwickeln, sich bewusst für oder gegen Gedanken oder Handlungen zu entscheiden. Genau wie Gewohnheiten sind auch meine Gedanken so etwas wie Werkzeuge, die ich allerdings nur in dem Moment benutze, wenn ich sie wirklich brauche. Und diesen gezielten Einsatz kann ich trainieren. Wenn ich mich regelmäßig in der Stille auf den inneren Weg begebe, meinem Selbst immer näherkomme und mich dadurch der äußeren Welt, ihren Ansprüchen, Anforderungen und Meinungen entziehe, hat sie auch immer weniger Macht über mich und mein Befinden. Denn in der Stille gelange ich auf den Grund meiner Seele. Und dort gibt es einen Ort, der für die äußere Welt verschlossen ist, an dem ich frei von den Erwartungen anderer, heil und ganz, ursprünglich und authentisch, rein und klar bin. An diesem Ort wohnt mein Geheimnis, dort bin ich daheim, hier sprudelt meine Lebensquelle. Und wenn ich aus dieser Quelle trinke, bin ich unverletzlich.

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(Mehr dazu erfahrt ihr in meinem vorletzten Buch „Kraftquelle Tradition")

Bodo Janssen schreibt über Sinnorientierte Führung, Krisen als Chance, ehrliches New Work, Bewusstheit und Stille

Bodo, 46 Jahre, Mensch. Begründer des "Upstalsboom Weges" und der "Der Stillen Revolution" Ich bewege mich im Spannungsfeld zwischen Spiritualität, Wissenschaft, Philosophie und der Praxis und schreibe über Führung, Selbstführung, Krisen als Chance und ehrliches New Work (im Sinne des Begründers)

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