© Dr. Alexandra Hildebrandt

Wie wir Vertrauen ins Leben finden: Zugänge zum größeren Ganzen

Vor allem in Krisenzeiten sind Menschen auf der Suche nach Verlässlichkeit und Orientierung, nach etwas, das ihnen die Kraft gibt, sich (wieder) aufzurichten, und das ihnen hilft, ihr eigenes Kreuz zu tragen. Es ist die Sehnsucht nach etwas Höherem, das über das eigene Leben hinausreicht, und danach, „von guten Mächten wunderbar geborgen“ (Dietrich Bonhoeffer) zu sein. Voraussetzung dafür ist allerdings die Empfänglichkeit und das Bewusstsein, dass das eigene Leben ohne Bezug auf etwas Größeres unvollständig ist. Aber spielt der Glaube überhaupt noch eine Rolle in einer Zeit, in der Kirchen ihre Relevanz und Überzeugungskraft verloren haben? Ja, sagt der studierte Theologie Stefan Seidel, Jahrgang 1978, der als Leitender Redakteur bei der evangelischen Wochenzeitung DER SONNTAG in Leipzig arbeitet. Allerdings hat die Kirche heute ein Sprachproblem, denn die Art, wie sie das Göttliche kommuniziert, erreicht kaum mehr die Menschen. Häufig ging Religion in der Vergangenheit mit Einengung, Bevormundung oder Rückständigkeit einher. Auch heute, in Zeiten der Pandemie und der Kriege, fragen sich viele Menschen, wo das Handeln eines liebenden Gottes bleibt. Sie erkennen in der Kirche keine Relevanz mehr für ihr Leben. Vieles hat sich „entkoppelt“, schreibt er in seinem aktuellen Buch „Grenzgänge“. Es enthält 19 Gespräche mit Zeitgenossen aus Kultur und Wissenschaft, darunter Daniela Krien, Christian Lehnert, Ingrid Riedel, David Steindl-Rast, Marica Bodrozic, Iris Wolff, Patrick Roth, Hanne Oerstavik, die späte Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert und die ebenfalls mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerkollegin Iris Wolff – Schreibende mit einer geschärften Wahrnehmung. Auch ist der katholische Priester Tomas Halik und der Protestant Jürgen Moltmann vertreten, der sich auch ausführlich dem Nachhaltigkeitsthema widmet: „Wir brauchen eine grüne Reformation“ und für mehr Achtsamkeit für das natürliche Leben plädiert.

„Dann legte Gott im Osten, in der Landschaft Eden, einen Garten an. Er ließ aus der Erde alle Arten von Bäumen wachsen. Es waren prächtige Bäume und ihre Früchte schmeckten gut. Dorthin brachte Gott den Menschen, den er gemacht hatte. (…) Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen.“ (1. Mose 2, 8-15) Mit diesem Gebot ist in der Bibel ein Urtext von Nachhaltigkeit formuliert. Der Mensch ist verantwortlich, die Erde zu bebauen, d. h., sie zu kultivieren, zu einem bewohnbaren Lebensraum zu gestalten und als solchen zu bewahren (1. Mose 2,15). Viele Texte in der Bibel werben für eine kluge Haushalterschaft. Das, was den Menschen von Gott an materiellen Ressourcen anvertraut ist, soll nicht gehortet, sondern zur Sicherung und Pflege des eigenen Lebens und zum Nutzen aller in wirtschaftlicher Weise eingesetzt werden. Dem Theologen Johann Gottfried Herder war der biblische Begriff von „Haushalt“, nämlich „oikos“, Haus Gottes, bewusst. Nachhaltigkeit beruht auf dem Vertrauen in das „Vermögen der Erde“ zur „Organisation und Erhaltung der Geschöpfe“, und zwar „in Permanenz“.

„Die Suche nach Gott und die Erfahrungen auf diesem Gebiet haben erst einmal nicht automatisch etwas mit der Kirche zu tun“, bemerkt Seidel, dem es gelingt, diese Frauen und Männer auf beeindruckende, persönliche Weise über Glauben, Hoffnung, Liebe und den Tod sprechen zu lassen. Dies ist zugleich eine Bestätigung dafür, dass wir heute nicht zwingend die Institution Kirche brauchen, wohl aber das Gebet und bestimmte religiöse Traditionen und Strukturen, die uns innerlich Halt geben. Die Klugen wissen, dass es nur eine Welt gibt, die noch klar und fest verankert ist: die innere. Im Gegensatz zu den Grenzüberschreitern, die dem Reiz der Grenze erliegen, kehren Grenzgänger immer wieder (zu sich selbst) zurück. Ständige Unruhe, Stress, Erschöpfung und Einsamkeit sind charakteristische Merkmale von Grenzüberschreitern. Sie hasten durchs Leben und töten es durch Geschäftigkeit, indem sie atemlos der Zeit hinterherlaufen. Indem sie ständig versuchen, nichts zu versäumen, versäumen sie am Ende sich selbst. Zum Thema Grenzgänge gehören für Stefan Seidel aber auch Bewusstheit und Bauchgefühl. Seine Interviews zeigen, wie sich Körper und Seele, Verstand und Gefühl, Geist und Körperlichkeit wieder zusammenfügen lassen. Dieses Lese- und Lebensbuch gibt uns all das zurück, was verloren schien, indem es den geheimnisvollen Weg nach innen weist.

  • Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius Verlag, München 2022.

  • Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Alexandra Hildebrandt: Die Spur des Grenzgängers. Leben als Passion. Junfermann Verlag. Paderborn 2006.

  • Alexandra Hildebrandt: Tiefe des Glaubens: Warum wir ganz unten nicht verloren sind von Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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