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Wieso Demut den Weg zur eigenen Wahrheit pflastert

Erkundige ich mich in Gesprächen mit Mitarbeitern, Kursteilnehmern oder Freunden danach, was sie unter Demut verstehen, fallen auch immer wieder Begriffe, die auf ein negatives Bild von Demut hinweisen. Da ist dann die Rede davon, sich zu erniedrigen, sich kleinzumachen, zu Kreuze zu kriechen oder sich zu unterwerfen. Manche sprechen von Demütigung oder Beschämung, die der Starke dem Schwachen zufügt. Demut bedeutet in ihren Augen, schwach zu sein. Und so ist es nicht verwunderlich, dass nur wenige Demut für tauglich halten, um sich in unserer Leistungsgesellschaft, in den Haifischbecken vieler Unternehmen, zu behaupten, geschweige denn, sich weiterzuentwickeln.

Die Erfahrungen, die ich mit Blick auf die Demut machte, waren so anders wie wertvoll und glichen gar nicht den von Mitmenschen geäußerten Ansichten. Meine erste bewusste Beschäftigung mit Demut fand 2010 in einem Klosterseminar des Team Benedikt statt, das Führung zum Thema hatte. Einer der dort aufgenommenen Sätze, die meine Lebens- und Führungsweise entscheidend beeinflussten, lautete: „Führung ist kein Privileg. Führung ist eine Dienstleistung.“ Und die Führungsdienstleistung, so lernte ich, bestand darin, alles dafür zu tun, dass die Menschen in meinem Unternehmen ihre Aufgaben gut erledigen und sich als Persönlichkeit entwickeln können. Um diesen Impuls zu unterstreichen, erhielten wir die Gedanken einer mexikanischen Hausfrau mit dem Namen Christina Souza über Führungsqualität: „Nur wer anderen dient, kann auch führen. Dienen ist ein Merkmal wirklicher Führungsqualität. In der natürlichen Ordnung der Dinge ist es oft das Höhere, das dem Niederen dient. In der menschlichen Gesellschaft zum Beispiel dient der Lehrer dem Schüler, der Vater dem Sohn, der Trainer der Mannschaft. Autorität ist also kein persönliches Privileg, sondern die höchste Form des Dienens.“

Als wir uns dann noch mit den sprachlichen Wurzeln des Begriffs „Demut“ befassten, schloss sich für mich ein erster Kreis. Der Ausdruck „Demut“ stammt vom althochdeutschen Wort diomuoti ab, das wiederum aus den beiden Bestandteilen „dienen“ (diono -n) und „Mut“ (muot) besteht. Demut ist also der „Dien-Mut“, der Mut zum Dienen. In der Führung hilft die Demut, uns nicht über den anderen zu erheben und damit uns selbst und unser Gegenüber in unserer Menschlichkeit zu sehen. Demut ist also die Voraussetzung, in einem selbst und in anderen das Menschliche zu entdecken. Demut ist also die entscheidende Eigenschaft, um herauszufinden, wer wir sind.

Demut begreifen - Illustration: Raden Norfiqri
Demut begreifen - Illustration: Raden Norfiqri

Wer bin ich? Diese Frage sprach mich an, und so recherchierte ich und fand Texte, in denen es um Demut ging. Etwa die Regel des heiligen Benedikt, Regula Benedicti, in der allein zwölf Stufen der Demut beschrieben werden, die zu einer genauen Selbsteinschätzung führen. Diese war für ihn die Grundlage für den rechten Umgang mit sich, anderen und dem Leben an sich.

Ich begann damit, meine Gedanken zur Demut allein (in der Stille) aufzuschreiben oder mit anderen (in Kursen, Seminaren oder Curriculae) über sie zu sprechen. Die Erkenntnisse, die sich daraus ergaben, versuchte ich immer wieder in die Tat umzusetzen. Heute bin ich davon überzeugt, dass ich ohne die Demut in meinem Leben psychisch, physisch und sozial zusammengebrochen wäre, sowohl persönlich als auch unternehmerisch.

Demut ist der Mut, dem eigenen und dem Leben anderer zu dienen. Sie ist für mich ein wesentlicher Pflasterstein geworden auf dem Weg in ein Dasein, in dem ich authentisch sein darf, das meiner Würde, meiner wahren Natur und Persönlichkeit entspricht. Ein Leben im Einklang mit mir selbst, das von Ruhe und Freiheit und nicht von den Vorstellungen anderer bestimmt wird. Um Demut bewusster zu entwickeln, können dir diese Aussagen helfen:

• Demut beschreibt die Bereitschaft, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein.

• Demut ist Fähigkeit und Bereitschaft zugleich, sich bedingungslos anzunehmen.

• Demut ist eine wichtige Voraussetzung dafür, wieder der Mensch zu werden, der wir sind.

• Demut hilft mir dabei, mich von dem Zwang zu befreien, andere Menschen beeindrucken zu wollen. Sie ist die Voraussetzung dafür, mit sich selbst gütig sein zu können.

Einladung zum Fühlen, Denken und Handeln

Ein erster Schritt, um sich in Demut zu üben, besteht darin, sich seiner Schwächen bewusst zu werden. Ein zweiter Schritt, diese Schwächen auch anzunehmen. Ein schöner Nebeneffekt: Es wird einem leichter fallen, den Schwächen und Fehlern anderer gelassener zu begegnen. Demut entwickelt nämlich meine Fähigkeit, meinem und dem unreifen Verhalten mancher Mitmenschen mit einem freundlichen Lächeln begegnen zu können. Vielleicht kannst du inzwischen nachvollziehen, dass Demut keine Schwäche ist. Das Gegenteil ist der Fall, denn Demut führt uns zu unserem inneren Kern. Und je näher wir diesem kommen, desto stärker und resilienter werden wir. Und irgendwann spüren wir eine Kraft in uns, die uns dabei unterstützt, den Hochmütigen um uns herum mit Ruhe und Gelassenheit zu begegnen. Wir gleichen dann einer Eiche, an der sich der Hochmütige kratzt wie eine Sau.

Fragen:

Worin besteht für dich die Würde des Menschen?

Was können die Wissenden von den Weisen lernen? Die Reichen von den Armen? Die Erwachsenen von den Kindern? Die vermeintlich Starken von den vermeintlich Schwachen?

Welcher deiner Schwächen bist du dir bewusst?

Wie begegnest du deinen Schwächen?

Wie den Schwächen deiner Mitmenschen?

Welches Menschenbild trägst du in dir? Wie würdest du es beschreiben?

Aufgabe:

Gehe in die Stille und verfasse einen Bericht mit der Überschrift „Meine Jahre als Ehefrau/Ehemann/Tochter/Sohn von …“. Für den Bericht versuchst du, dich in einen dir sehr nahestehenden Menschen (Sohn/Tochter/Ehefrau/Ehemann) zu versetzen. Stell dir vor, du bist er/sie, und dir wird die Frage gestellt, woran er/sie sich erinnert, wenn er an die gemeinsamen Jahre mit dir als Ehefrau/Ehemann/Sohn/Tochter zurückdenkt. Schreibe alles in der Ich-Form. Schreibe alles auf, was dir einfällt.

Übung:

Stelle dich aufrecht hin. Kreuze deine Hände über der Brust, sodass die Fingerspitzen deine Schultern berühren: So, als würdest du dein tiefstes Inneres beschützen wollen. Schließe deine Augen und nimm wahr, wie dein Atem geschieht. Beobachte die Stille in dem von deinen gekreuzten Armen geschützten Raum und sprich dort Folgendes hinein: „Ich umarme in mir das Starke und das Schwache, das Gesunde und das Kranke, das Erfolgreiche und das Erfolglose, das Gelungene und das Misslungene, das Vertrauen und die Angst, die Freude und die Trauer, das Ansehnliche und das Unansehnliche, das Bewusste und das Unbewusste – und nehme mich an, wie ich bin.“ Diese Übung kannst du als regelmäßiges Abendritual in deinen Alltag einbringen.

Wenn Du mehr erfahren willst, dann findest Du 11 weitere Kapitel in meinem neuen Buch:

Bodo Janssen schreibt über Sinnorientierte Führung, Krisen als Chance, ehrliches New Work, Bewusstheit und Stille

Bodo, 46 Jahre, Mensch. Begründer des "Upstalsboom Weges" und der "Der Stillen Revolution" Ich bewege mich im Spannungsfeld zwischen Spiritualität, Wissenschaft, Philosophie und der Praxis und schreibe über Führung, Selbstführung, Krisen als Chance und ehrliches New Work (im Sinne des Begründers)

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