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„Wir sind die Transformation“: Zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft

Zuversicht bedeutet nicht, sich illusionären Hoffnungen hinzugeben, sondern auch in Krisenzeiten einen klaren Blick für den Ernst der Lage zu behalten und dennoch die Hoffnung nicht zu verlieren. Das zeigt auch der selbstständige Gestalter, Handwerker und Dozent Andree Weißert in seinem Buch „Ich bin die STADT das KLIMA und die TRANSFORMATION“. Um die Probleme und Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen und nicht nur darüber zu reden, braucht es anpackende Menschen, die auf kluge und nachhaltige Weise die Welt gestalten und wissen, dass sich Risiken nicht vermeiden lassen, indem einfach so weitergemacht wird wie bisher. Vorwiegend schreibt er in der ICH – Form, denn Transformation beginnt bei uns selbst: „Ich mache Fehler, Ich sehe Dinge, Ich kann mein Leben ändern.“

Dass sein Text essayistisch verfasst ist, hat nicht nur mit der Offenheit seines Denkens zu tun, sondern auch mit einer Frage, die schon Montaigne in seinen Essais unentwegt beschäftigte: Wie soll ich leben? Vier Jahrhunderte später spitzt Thomas Mann im Josephsroman die Frage zu: „Kommt nicht der Erörterung des ,Wie‘ so viel Lebenswürde und –wichtigkeit zu wie der Überlieferung des ,Daß‘? Ja, erfüllt sich das Leben nicht recht im ,Wie‘?“ Mit kritischem, aber optimistischen Blick durchsucht Andree Weißert die Gegenwart nach Hinweisen und Potenzialen für die mögliche Transformation unserer Lebensweise. Von der negativen Dynamik der Gegenwart lässt er sich nicht gefangen nehmen, denn dann würden „alle Hoffnungsschimmer in dem Moment verfliegen, in dem wir sie wahrnehmen.“

Danach macht er sich auf die Suche nach aktuellen Entwicklungen, die das Potenzial für eine nachhaltige Transformation haben. Beginnen muss sie in der Stadt – entlang des Nachhaltigkeitspfades. Dabei spielen Begriffe wie Bewusstsein und Introspektion, Lebensstil und Verhalten sowie Technik und Ökosysteme eine wichtige Rolle. Um diese Transformation richtig meistern zu können, muss zunächst alles auf den Prüfstand und neu überdacht werden: alte Denkmuster, Strukturen, Prozesse und Werte. Kein Unternehmen, keine Organisation, keine Stadt und Kommune ist davon ausgenommen. In diesem Transformationsprozess nehmen der Umgang mit Komplexität und das ganzheitliche Denken einen bedeutenden Stellenwert ein.

Ein führendes Beispiel (nicht im Buch erwähnt) ist die Stadt Lagos in Nigeria. Sie gilt als eine der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Städte und wird sich voraussichtlich bis 2050 auf etwa 47 Millionen Einwohner verdoppeln. Aufgrund ihrer geografischen Lage ist sie besonders anfällig für extreme Hitze, starke Regenfälle und den Anstieg des Meeresspiegels. Doch sie hat sich auf den Weg der Transformation gemacht, um eine resilientere Zukunft aufzubauen. Seit mehr als einem Jahr nutzt Lagos Daten und Analysen, um einen robusten Anpassungs- und Resilienzplan (A&R) zu erstellen, der die Auswirkungen extremer Wetterbedingungen auf seine Schlüsselsysteme berücksichtigt. Der Plan sieht vor, dass die Stadt Finanzmittel mobilisiert und wirksame Verwaltungs-, Gesetzgebungs- und Überwachungsmöglichkeiten einführt. Das Beispiel Lagos spiegelt ein wachsendes Gefühl der Dringlichkeit (auf das auch Andree Weißert immer wieder ins einem Buch schreibt) und des Interesses an A&R in ganz Afrika und auf der ganzen Welt wider. Es zeigt, wie eine gezielte und durchdachte A&R-Strategie und eine solide Planung die Fähigkeit einer Stadt, den Auswirkungen des Klimawandels standzuhalten, erheblich verbessern können.

Das meint auch der Begriff Dringlichkeit, der anderes meint als „wichtig“ – es wird eine höhere Temperatur benötigt, damit die „Veränderungsenergie“ wirksam werden kann. Das ist auch eine der zentralen Aussagen von Andree Weißert. Er möchte Menschen in ihren Zusammenhängen verstehen - ganzheitlich in der Welt, in der Natur und in der Stadt. Er beschreibt sie als einen Organismus, einen sich permanent entfaltenden Lebensraum für alles Lebendige: „Wenn ich es aufgebe, mich als räumlich isoliertes Individuum zu verstehen, und die Stadt als einen Organismus begreife, der eine große Artenvielfalt innerhalb eines gemeinsamen Raums integriert, dann kann ich genauso die menschliche Vielfalt als Reichtum und als eine existenzielle Notwendigkeit verstehen.“ Dabei spielt auch das Miteinander eine wichtige Rolle. Mit der Digitalisierung hat die Vereinsamung in der Gesellschaft zugenommen. Viele Menschen haben heute mehr Freunde in digitalen Netzwerken als in der realen Welt.

Vor allem in Großstädten kennen etliche Menschen kaum ihre Nachbarn. Folgen der zunehmenden Anonymisierung können Vereinsamung oder Angst sein. Wir brauchen deshalb mehr „Vertrauen in die Kompetenz und Intuition von Handwerker:innen, mehr Wildwuchs, kreatives Chaos, Eigeninitiative, Nachbarschaftlichkeit und Experiment“, sagt Weißert. Er plädiert dafür, die Stadt in einen Ort zu verwandeln, der die Bewohner:innen freundlich aufnimmt, der ein Zuhause ist, „an dem wir mit unseren Bedürfnissen aufgenommen sind und der unserer Sehnsucht nach Natur und Entfaltung gerecht wird.“ Zudem ist erwiesen, dass resiliente Gemeinschaften, in denen sich Menschen für ihre Nachbarn und ihre Umwelt verantwortlich fühlen und ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl haben, eher in der Lage sind, Krisen zu bewältigen. Die Resilienz einer Gemeinschaft wird nach Ansicht des britischen Umweltaktivisten Rob Hopkins am besten durch die Handlungs- und Projektmöglichkeiten beschrieben, die eine Kommune zur Verfügung hat. Resilienz ist für ihn ein Maß dafür, wie sich in Zeiten wachsender Unsicherheiten das Gefühl verstärkt, über verschiedenste Optionen verfügen zu können.

„Die Erfahrung, dass alles Sein und jeder Moment eine Lebendigkeit hat, ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir uns als wirksam erleben können.“ Leider zeigt sich unser Wohlstand „in Deponien, Müllverbrennungsanlagen, in überfischten und verschmutzten Meeren, verbrannter Luft, abgeholzten Wäldern und Monokulturen. Die Verhinderung einer suffizienten Kreislaufwirtschaft zugunsten von Wachstum, Profiten und der materiellen Selbstbehauptung ist eine aktive Verhinderungsstrategie von Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit.“ Ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige, ganzheitliche Lebensweise ist für Weißert eine gute, wirksame, erfüllende und sinnstiftende Arbeit: „Architekt:innen und Ingenieur:innen können zu Materialscouts werden. Ihre Kreativität und ihr Sachverstand sind darauf ausgerichtet, das Potenzial von Bestandsgebäuden zu interpretieren und neue Anwendungen für gegebene Materialien, Bauteile und Höhlen zu entwickeln.“

Andree Weißert wurde 1975 in Norddeutschland geboren und lebt mit seiner Lebenspartnerin, der Regisseurin und Autorin Mia Grau, und den zwei gemeinsamen Kindern in Berlin. Es ist als Zimmerer und Architekt ausgebildet und gründete 2009 ein interdisziplinäres Studio für Gestaltung. In seinem Berufsalltag widmet er sich Objekten, Räumen, Häusern und Ausstellungen. Vor kurzem wurde eine seiner Arbeiten vom Deutschen Architektur Museum für den DAM–Preis 2024 nominiert. Die „Atomteller“, die er gemeinsam mit Mia Grau gestaltet hat, wurden in die Sammlungen renommierter Museen aufgenommen, sind in vielen Publikationen erschienen und wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Einige seiner Möbelentwürfe werden oder wurden von TECTA, Atelier Haußmann, MAGAZIN und Bazar Noir hergestellt.

Vor diesem Hintergrund nimmt auch das Handwerk und die Schönheit von Prozessen einen wichtigen Stellenwert in seinem Buch ein: Es wird gezeigt, dass Sinn mit der Erfahrung von Sinnlichkeit entsteht, denn wir be-greifen von außen Dinge nur, die wir auch von innen verstehen. Das gelingt allerdings nur, wenn sich Produkte auch auseinanderbauen und reparieren lassen. Wo es an handwerklichen Fähigkeiten fehlt, gibt es kein „Begreifen“. Das Wort stammt aus der haptischen und taktilen Sphäre: Wo etwas mit Händen gegriffen wird, lässt es sich auch begreifen. Auffällig ist, dass der Begriff des Handwerks (in der altgriechischen Bezeichnung „techne“ noch mit Kunst gleichgesetzt) immer dann eine besondere gesellschaftliche Bedeutung erhält, wenn das Haptische seine Bedeutung verliert. Vergessen wird im Digitalisierungszeitalter oft, dass sich ohne Handwerk auch technologische Möglichkeiten nicht nachhaltig nutzen lassen, denn dazu braucht es Können und Meisterschaft. Handwerk trägt zur Welterschließung bei, stiftet Sinn, regt zum Selbstdenken an, konfrontiert uns mit den Konsequenzen des eigenen Tuns – und erinnert an den kreativen Teil in uns. Wenige Tage vor seinem Tod schreibt Goethe an Wilhelm von Humboldt: „Je früher der Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er.“

Eine wichtige Rolle spielt dabei auch der amerikanische Soziologe Richard Sennett, der in seinem Buch "Handwerk" (2008) die zivilisations- und kulturbildende Kraft der Arbeit beschreibt. Wer sie gern verrichtet, hat das in den Nerven kodiert. Der Philosoph Ralph Waldo Emerson sagte, dass uns die Frage nach der Schönheit weg von den Oberflächen und hin zum Nachdenken über die grundlegenden Eigenschaften der Dinge führe. Gute Arbeit beschäftigt sich mit ihrem Zweck, dem Kontext und der Abläufe. Sie beruht auf der Hingabe an eine Aufgabe und verwandelt gewöhnliche Dinge in anmutige „Werke“. Der Stolz auf das eigene Werk hat für ihn auch eine soziale und politische Dimension. Etymologisch hängt der Begriff zusammen mit „wirken“ (auch mit „Wirklichkeit“). Das altgriechische „ergon“ (Werk) steckt in „energeia“ (Verwirklichung, Vollendung). Ein geschaffenes Werk, das durch sinnvolle, das Leben bereichernde Produkte und durch die Schaffung guter Arbeit entsteht, hat immer mit Verantwortung zu tun sowie mit manuellen, intellektuellen und sozialen Fähigkeiten. Der Handwerker symbolisiert für Sennett und Weißert das engagierte Tun. Um zu verstehen, wie Dinge funktionieren, müssen wir sie machen. Nicht jeder kann in einer eigenen Werkstatt wirken oder ein Geschäft führen – doch danach streben, ein guter Handwerker des Lebens zu werden im Sinne des Designers Alan Moore, ist möglich: „von Natur aus neugierig auf die Welt, in der wir leben, und auf die Mittel, mit denen wir dazu beitragen können, sie zu verbessern.“

  • Andree Weißert: Ich bin die STADT das KLIMA und die TRANSFORMATION. Durch Selbstwirksamkeit und Verbundenheit zur regenerativen Stadt. Oekom Verlag, München 2023.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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