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Wirtschaft und Gesellschaft in Balance: Warum Handwerksberufe mehr Gewicht brauchen

Die Karriereberaterin Jutta Boenig kritisierte schon vor Jahren eine Entwicklung, die darauf setzt, dass Kinder schon in der Kita Englisch lernen, mehrere Musikinstrumente spielen, später im Fitnessclub schwitzen und mit Anfang 20 den Doktortitel erwerben. Die Personalexpertin bezweifelte, dass jeder junge Akademiker von heute wirklich ein Akademiker ist. Das bezeugen noch immer die hohen Studienabbrecherquoten und die Klagen aus Wissenschaft und Wirtschaft über das zuweilen enttäuschende Niveau vieler Uni- und Hochschulabgänger. Ähnlich sieht es auch Thomas Sattelberger, Ex-Personalvorstand der Deutschen Telekom. Sein Rat:

Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung haben seiner Wahrnehmung nach sogar eine höhere soziale Kompetenz als pure Akademiker. Beide wurden von Mario Müller-Dofel interviewt. Der gelernte Metallfacharbeiter, Industriekaufmann und Wirtschaftsjournalist hinterfragte 2015 in seinem Buch „Karriere ohne Studium“ den Akademisierungstrend und brach eine Lanze für beruflich Qualifizierte: „Man braucht in Deutschland nicht den Kopf in den Sand zu stecken, wenn einem das Studium fehlt. Wir haben so viele hervorragend aus- und fortgebildete Facharbeiter, Fachangestellte, Meister, Techniker, Fachwirte oder Selbstständige, die ein zufriedenes Berufsleben führen – viele davon können für jeden von uns echte Vorbilder sein.“ Auslöser waren zum Beispiel viele TV-Sendungen, in der ausnahmslos Akademiker darüber diskutierten, warum unser Bildungssystem ungerecht sei, Nichtakademiker wenig Chancen auf eine tolle Berufswege hätten und deshalb immer mehr junge Menschen studieren müssten.

In seinem Buch interviewte er auch erfolgreiche Nichtakademiker zu deren Berufswegen, darunter den Fliesenlegermeister Guido Schmidt, Starkoch Tim Mälzer und Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer, der – aus seiner Sicht zu Unrecht - die fünfte Klasse wiederholen musste. Bestimmte Lehrer haben ihm möglichst schlechte Noten gegeben, weil sie ihn nicht mochten. Nach dieser Erfahrung wollte er am liebsten nie mehr zur Schule gehen. Mit 16 Jahren hat er die Schule geschmissen. Guido Schmidt hat zwar die zehnte Schulklasse geschafft – aber nur mit viel Mühe. Aufgewachsen ist er Hoyerswerda-Neustadt, eine sogenannte Arbeiterwohnstadt der DDR. Schon als Schüler war er ein Praktiker, Theorie interessierte ihn nicht. Seine schlechten Mathe-Noten führt er auf sein Desinteresse an abstrakten, nicht greifbaren Formeln zurück. Dass ein Handwerker ordentlich rechnen können muss, begriff er erst während seiner Berufsausbildung. Christian Stang ist Postbeamter, Fachbuchautor und Linguist. Seine Fachkenntnisse erwarb er sich im Selbststudium ohne Abitur und Hochschulbesuch. Auch er betont das „Greifbare“: Schreiben ist für ihn wie ein Handwerk, und die Bücher sind seine Gesellenstücke: „Produkte, die man anfassen kann, die Menschen benutzen.“

Der Fliesenleger Guido Schmidt bringt im Interview mehrfach „schön“ in Verbindung mit seinem Handwerksberuf. Er führt dies darauf zurück, dass sein Vater mit Liebe gebaut und gebastelt hat: „Er hat mit seinen Händen etwas Bleibendes geschaffen.“ Wie aus dem Nichts, denn zu DDR-Zeiten gab es kaum Auswahl an Baumaterial. Deshalb musste improvisiert werden. Schon mit zehn Jahren wollte Schmidt im Garten seiner Eltern Bäume pflanzen, um Holz zu haben, weil der Werkstoff in der DDR knapp war. Mitten im damaligen Niedergang seiner Stadt machte er später dennoch Karriere – als Kleinunternehmer am Bau: „Irgendwie habe ich mir schon in jungen Jahren zugetraut, mein Leben eines Tages selbst in die Hand zu nehmen, anstatt mich nur führen zu lassen.“ In seine Arbeit möchte er immer eine Idee bringen, die seine Kunden noch Jahre später daran erinnert, dass er ihr Handwerker war: „Der Fliesenleger gestaltet Wände und Böden zu einem Endprodukt. Kreative Fliesenleger können, wenn der Bauherr sie lässt, richtige Kunstwerke schaffen.“

Gerade erschien „Alterslos - Grenzenlos. Portraits und Gespräche über das Leben“ - ein Bildband mit Interviews der Schauspielerin, Malerin, Buchautorin und Fotografin Simone Rethel-Heesters, der diese Themen in aktuelle Kontexte setzt und zeigt, warum Kopf, Herz und Hand zusammengehören – auch und gerade im Zeitalter der Digitalisierung. Nach ihrer Schauspielausbildung spielte sie am Bayerischen Staatsschauspiel in München, am Deutschen Theater, am Hamburger Thalia Theater und in etlichen Filmen und TV-Serien. Sie war mit Johannes Heesters verheiratet und engagierte sich als Botschafterin für die Initiative „Altern in Würde“. Bei Westend erschien zuletzt ihr Buch „Sag nie, du bist zu alt“ (2010). Die Meisterschaft des Alterns hat für sie auch mit der Gabe zu tun, Geistiges und Haptisches in Einklang zu bringen sowie grenzenlos neugierig und beweglich zu bleiben. Für ihr Buch hat sie mit Menschen gesprochen, die unabhängig von ihrem biologischen Alter ihr Leben weiterhin beruflich aktiv und sinnhaft gestalten: Handwerker, Künstler, Forscher oder Politiker, bekannte und unbekannte Persönlichkeiten.

Handwerk und Nachhaltigkeit sind verbindende Begriffe in den Beiträgen über den Tischler Hermann Klauke, Prof. Wolfgang M. Heckl, Generaldirektor des Deutschen Museums in München, der die Bedeutung der Reparatur für die Kreislaufwirtschaft hervorhebt. Anderen, wie der Bildhauerin Impala Lechner, der Schauspielerin Jutta Speidel und der Lehmbaumeisterin Renata Wendt ist es wichtig, etwas mit den Händen zu schaffen: „Meister wird man, wenn man viele Jahre Erfahrung hat und viel gearbeitet hat, dann kann man sagen: Ich bin ein Meister meines Fachs.“ Simone Rethels Buch zeigt beispielhaft, was die wirklich „Großen“ ausmacht: Sie sagen niemals, dass sie etwas vollkommen beherrschen, sie bereiten sich ein Leben lang vor und wollen sich ständig verbessern, ruhen sich niemals auf vergangenen Erfolgen aus. Sie sprechen nicht von Funktionen, sondern über ihre Aufgaben und Fähigkeiten. Der Dünkel der Hierarchie, dass es die anderen sind, die lernen und üben müssen, ist ihnen fremd.

Doch ohne Freude ist beides nichts. Die Bedeutung des dualen Studiums hebt Simone Rethel genauso hervor wie Mario Müller-Dofel und David Goodhart, der sich in seinem aktuellen Buch „KOPF, HAND, HERZ – Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen“ für die Stärkung erfüllender beruflicher Möglichkeiten für Nichtakademiker einsetzt: „Dank des dualen Ausbildungssystems, um das Deutschland in aller Welt beneidet wird, genießen handwerkliche und andere Ausbildungsberufe größeres Ansehen als vergleichbare Tätigkeiten in den Vereinigten Staaten und Großbritannien.“ Auf der Website des Familienunternehmens Häcker Küchen werden die Vorteile für jene, die sich für ein duales Studium entscheiden, zusammengefasst:

  • Erwerb eines fundierten Fachwissens in der entsprechenden Studienrichtung

  • Erwerb der Fähigkeit zu wissenschaftsbasierter und praxisorientierter Aufgabenlösung

  • Aneignung eines umfangreiches und anwendungsorientiertes Methodenwissen.

Ausbildung:

  • Optimierung von Fertigungsprozessen und deren Wirtschaftlichkeit

  • Entwicklung von Fertigungsstrategien und deren Umsetzung

  • Übernahme verantwortungsvoller und unverzichtbarer Unternehmenstätigkeiten

  • Vertiefte Kenntnisse in Gestaltung, Konstruktion, Fertigungstechnik, Werkstoffkunde, BWL, Betriebsorganisation, Personalmanagement, Maschinen- und Elektrotechnik.

In der Verwaltung wird hier ausgebildet zum Industriekaufmann (m/w/d), Fachinformatiker Anwendungsentwicklung (m/w/d), Fachinformatiker Systemintegration (m/w/d), Duales Studium Bachelor of Arts – Betriebswirtschaft, Duales Studium Bachelor of Science – Wirtschaftsinformatik. In der Fertigung erfolgt die Ausbildung zum Holzmechaniker (m/w/d), Elektroniker für Betriebstechnik (m/w/d), Mechatroniker (m/w/d), Duales Studium Bachelor of Engineering – Holztechnik. Die Ausbildung zum Holzmechaniker umfasst sämtliche Bereiche, die auch von den hier genannten Autoren hervorgehoben wurden: Es geht vor allem um die Bedeutung des Haptischen und den Umgang mit dem nachhaltigen Material Holz, das hier wie Kunststoff, Glas und Metall in vielfältiger Art und Form verarbeitet wird. Die Auszubildenden fertigen Möbel und stellen Inneneinrichtungen her, sie lernen den professionellen Umgang mit Werkzeugen wie Säge, Bohrer und Fräse, sie bedienen moderne Maschinen und Anlagen zur Holzbearbeitung, lackieren Oberflächen und lernen den besonderen Umgang mit Farben und Lacken kennen. Diese Verbindung von Hand- und Kopfarbeit vermitteln ihnen zugleich das befriedigende Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, das über sie selbst hinausreicht.

Wichtiger sind Interesse und ein hohes Maß an Engagement und Fleiß. Aber auch der Wille zur Übernahme von Fach- und Führungsverantwortung sowie sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln, hohe intrinsische Motivation und die Freude daran, das Unternehmen nachhaltig voranzubringen. Zwar wird ein Teil der offenen Stellen mit externen Kandidaten besetzt, um neues Know-how zu integrieren, doch ein großer Teil der benötigten Fachkräfte wird selbst ausgebildet. Auf Mitarbeiterebene finden sich einige Kollegen, denen aufgrund ihrer Berufserfahrung und Expertenwissens erweiterte Handlungsspielräume und Fachverantwortung übertragen wurden und die damit eine Fachkarriere begründet haben. Voraussetzung war allerdings auch hier der stetige Ausbau des Wissens mittels interner und externer Fortbildung. Auf Abteilungsleiterebene ist ein großer Anteil an Mitarbeitenden zu finden, die kein Studium absolviert haben, die aber aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen und erzielten Erfolge eine Führungskarriere erreicht haben und denen Personalverantwortung übertragen wurde. Auch sie haben sich stetig weitergebildet. Auf Geschäftsführungsebene ist das Studium ebenfalls kein Kriterium für eine Karriere gewesen.

Einige Auszubildende empfanden die theoretische Ausbildung an einer Hochschule als zu einseitig, trafen die falsche Studienwahl oder hatten keine Freude am Studium. Sie gehören zu denjenigen, die ihre Ausbildungsabschlüsse in einer verkürzten Zeit mit Bravour erreicht haben. Interessanterweise scheint nach dem sehr guten Abschneiden der Ausbildung das Studium wieder ins Blickfeld dieser Mitarbeitenden zu rücken, zumal sie in den vergangenen Jahren ein berufsbegleitendes Studium aufgenommen haben. Der Abbruch des Studiums hat bei allen zu einer „Ich schaffe es trotzdem – und mit sehr guten Ergebnissen!“-Haltung geführt. Die Motivation und der Ehrgeiz, sich zu beweisen, ist weitaus größer als bei Auszubildenden, die „glatte“ Lebensläufe vorweisen können. Brüche können (müssen aber nicht) die Basis zu einer erfolgreichen Karriere sein. Beispiele finden sich hier auf allen Ebenen. Letzteres trifft auch auf Auszubildende mit einer Hochschulreife zu, die sich nach dem Schulabschluss über ihre berufliche Orientierung nicht im Klaren waren. Nachdem sie sich für uns und eine Ausbildung entschieden hatten, haben auch sie die Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen und sich im Anschluss für ein berufsbegleitendes Studium (vom Unternehmen finanziert) entschieden. Auch die Studienleistungen sind sehr bzw. gut, insofern hat die abgeschlossene Ausbildung ihr Selbstvertrauen gestärkt und ihnen eine gute Ausgangsbasis für die weitere berufliche Entwicklung gegeben.

Im Betrieb kann der Unterrichtsstoff der Berufsschule schnell umgesetzt werden und fördert die Eigenständigkeit. Durch eine geregelte Ausbildungsvergütung werden auch Jugendliche aus einkommensschwachen Familien motiviert, einen qualifizierten Beruf zu erlernen. Die Auszubildenden motivieren Schülerinnen und Schüler für eine Berufsausbildung. Sie gehen dabei nach Absolvierung einer entsprechenden Schulung bei der IHK direkt in Schulklassen und geben authentische Einblicke in ihre Ausbildungsberufe. Sie präsentieren den Schülerinnen und Schülern ihre persönlichen Erfahrungen mit ihrem Beruf und ihrer Ausbildung und zeigen ihnen die Chancen einer Berufsausbildung auf. Ihrerseits erhalten sie die Chance, ihre persönlichen Kompetenzen zu stärken und ihre fachliche Kompetenz zu zeigen. Das Unternehmen fördert damit den direkten Einstieg von Schulabgängern nach ihrem Abschluss in die Berufsausbildung.

  • Mario Müller-Dofel: Karriere ohne Studium. Zum Umdenken und Mut machen: Zehn Interviews mit erfolgreichen Nichtakademikern und renommierten Personalexperten. SpringerGabler Verlag 2015.

  • David Goodhart: KOPF, HAND, HERZ – Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Penguin Verlag, München 2021.

  • Alexandra Hildebrandt: Meisterjahre. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2018.

  • Simone Rethel-Heesters: Alterslos – Grenzenlos. Porträts und Gespräche über das Leben. Westend Verlag. Frankfurt a.M. 2021.

  • Zur Bedeutung des Haptischen und des Handwerks im Zeitalter der Digitalisierung: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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