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Wo sind die engagierten und anpackenden Intellektuellen geblieben?

Wo sind jene klugen Köpfe geblieben, die auch in einer aus den Fugen geratenen Welt noch klar denken können, und deren Wort persönliches und gesellschaftliches Gewicht hat?

Vielfach wird ihre gesellschaftliche Rolle heute von „Kreativen“ in den Werbeagenturen übernommen. Plattitüden ersetzen dann Argumente und Programme. Gewiss brauchen wir Kreative, weil sie eine nachhaltige Kraft des kulturellen Lebens sind, aber nur hier und da eine Initiative und ein paar Statements, die häufig austauschbar sind, reichen nicht, um heute Orientierung zu bieten, zu informieren und aufzuklären über das, was richtig ist und gerecht ist. Was es jetzt braucht, ist etwas, das viele Menschen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten gleichermaßen berührt, das Kopf und Herz, Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit verbindet. Doch die ökonomischen, institutionellen und kulturellen Angelegenheiten werden inzwischen „von den politischen und administrativen Kräften und den Lobbygruppen entschieden“, unter denen die Intellektuellen „durch Abwesenheit“ glänzen, konstatierte der peruanische Schriftsteller, Politiker und Journalisten Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren. In seinem Buch „Alles Boulevard“ zeichnet er den Weg des Intellektuellen, dessen Bezeichnung erst im neunzehnten Jahrhundert aufkam: im Frankreich der Dreyfus-Affäre und der Polemiken, die Émile Zola mit seinem berühmten „J’accuse“ entfachte.

Die Teilnahme denkender und schöpferischer Geister am öffentlichen Leben, an politischen, philosophischen und religiösen Debatten reicht allerdings schon bis ins Abendland zurück: Es gab sie bereits zu Zeiten Platons und Ciceros, in der Renaissance und in allen Zeiten danach. In seinem Buch „Ändere die Welt“ verweist der Schweizer Jean Ziegler auf den Mediologen Régis Debray, der die Aufgabe des Intellektuellen nicht darin sah, Liebenswürdigkeiten zu verteilen, „sondern zu sagen, was ist. Er will nicht verführen, sondern bewaffnen." Der Intellektuelle (der Soziologe) muss laut Ziegler aufdecken, was nicht in der „Selbsthervorbringung der Gesellschaft auftaucht." Das ist eine enorme Herausforderung, denn das Verborgene (die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Interessen sowie die ideologischen und sozialen Strategien der gesellschaftlichen Akteure) wurde und wird häufig absichtlich versteckt.

Schauspieler statt Intellektuelle

In der Vergangenheit suchten Politiker immer wieder die Nähe zu Intellektuellen, die heute weitgehend aus dem Bild der Öffentlichkeit verschwunden sind. Arm in Arm sieht man Politiker heute höchstens mit Schauspielern, Fußballstars oder Rocksängern. Ein wirkungsloser Schein-Ersatz, der nicht davor schützt, im Chaos der Welt zu versinken. Die Sprache dieser Politiker ist der Ausdruck ihrer Welt. Wie banal sie ist, beschrieb Roger Willemsen, einer der letzten großen Intellektuellen, die wir in Deutschland hatten, in seinem Bestseller „Das Hohe Haus“. Um zu den Intellektuellen vorzudringen, die uns heute Orientierung bieten und auch jungen Menschen ein Vorbild sein können, müssen wir das Hohe Haus verlassen und hinabsteigen in den kulturellen Nährboden des wahren Denkens. Die ihn bereitet haben und pflegen, zeigen uns nicht nur die Fülle des Lebens, sondern auch die Fülle der Möglichkeiten unseres Handelns in schwierigen Zeiten. Sie tätscheln keine Schauspieler und Sportler und biedern sich nicht an, sondern halten ihre Hand schützend über alles, was auf dieser Erde lebt. Sie haben die Leidenschaft zum Machen.

Der Intellektuelle mag aus dem Bild der Öffentlichkeit verschwunden sein, aber er ist nicht weg. Vielmehr liegt es auch an den neuen Medien, ihnen in Zeiten wie diesen wieder mehr Präsenz zu verschaffen und die Kraft des Wortes zu nutzen. Viele von ihnen finde ich auf Twitter – sie zeigen, dass der sinnstiftende Intellektuelle gerade nicht historisch an sein Ende gekommen ist. Fritz Breithaupt und Martin Kolmar schreiben in ihrem ZEIT-Artikel „Wo Experten zögern“: „Der gesellschaftskritische Zahn ist ihm gezogen worden, weil ihm vor lauter Detailwissen der Blick für das gesellschaftliche Ganze fehlt, er vielmehr für dieses große Ganze kein Fachexperte zu sein vermag.“ Das sehe ich anders: Die Intellektuellen von heute sind vielleicht weniger laut und geltungsbedürftig, aber sie sind sehr präsent.

Woran man einen klugen Geist (auf Twitter) erkennt

Einen klugen und lebenspraktischen Intellektuellen erkennt man (auch auf Twitter) daran, dass er seine Aufgabe in den Mittelpunkt stellt und nicht sich selbst. Er denkt, fühlt und handelt über sein Fachgebiet hinaus und schafft stets interessante Querverbindungen zwischen allen Bereichen des Lebens. Er vernetzt Themen und Menschen. Vor allem aber lässt er sie an der Unmittelbarkeit seiner Erfahrungen teilhaben. Sinn, Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit sind ihm wichtiger als eine komplizierte Sprache und Spezialisierung. Er ist ein Mensch der sachlichen Urteile und nicht der Vor-Urteile. Die wirklich Klugen sind erdverbunden und ordnen die Welt auch schreibend in „Zeilen“, die Orientierung geben und neue Wege des Denkens zeigen.

Weiterführende Literatur:

Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst. Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Jean Ziegler: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen. C. Bertelsmann Verlag, München 2015.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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