Nicole Simon beim Fotoshooting mit Otto Rehhagel am 13. Oktober 2021 in Frankfurt am Main vor dem Goethe-Denkmal. - Nicole Simon

Würdevoll: Was Otto Rehhagel mit Goethe verbindet

Der Lorbeerkranz ist Insigne der höchsten Dichterwürde, auch im sportlichen Bereich gilt er als Siegesauszeichnung. Dass eine einfache Einordnung als klassisches ikonographisches Sieger-Attribut allerdings zu kurz greift, zeigt die bildliche Inszenierung von Nicole Simon, die den Fußballtrainer und Menschen Otto Rehhagel mit einem Lorbeerkranz vor dem Goethe-Denkmal in Frankfurt am Main zeigt. Erschaffen wurde es von Ludwig von Schwanthaler (1802 bis 1848) und eingeweiht am 22. Oktober 1844 auf dem Goetheplatz. Die monumentale, sieben Meter hohe Figur des Dichters erhebt sich auf einem kubischen Sockel, der mit Reliefs verziert ist. Verschiedene Figuren, Szenendarstellungen und Allegorien verweisen auf seine bedeutendsten Werke. Auch Lorbeerkranz und Schriftrolle stehen symbolisch für das Schaffen und Wirken des Dichters. Nicole Simon ist sich zwar bewusst, dass die mediale Indienstnahme des Lorbeerkranzes als triumphales Dichterinsigne im Laufe des 18. Jahrhunderts abnahm – als symptomatisch dafür lässt sich das Urteil Lenores in Goethes Künstlerdrama Torquato Tasso von 1790 lesen, in dem der Lorbeerkranz als „Zeichen mehr des Leidens als Glücks“ gesehen wird -, doch hat sie sich dennoch bewusst für diese Symbolik entscheiden. Erst dadurch gelingt es ihr, mehrere Bedeutungsebenen im Bild auszudrücken: Goethe blickt von hinten auf Rehhagel – beide halten einen Lorbeerkranz. Die Rund- und Reigenfigur des durch Menschenhand gewundenen Kranzes ist eng mit der Vorstellung eines ringförmigen Himmels verbunden. Die Auszeichnung steht aber auch für eine Überwindung von Hindernissen.

Neben den beiden Lorbeerkränzen, die nahe beieinander sind, zeigt ihr Bild noch ein anderes Symbol: ein Herz, das die Vögel auf der rechten Seite „per Zufall“ bildeten. Auch die Wolken auf ihrem Bild sind Ausdruck des Zufalls, der Zeitlosigkeit und Mehrdeutigkeit, des Schönen und der Freiheit. Als scheinbar Ewiges sind sie flüchtig und umgekehrt. Sie sind ein Symbol für alles, was erreichbar scheint, doch wenn es greifbar werden soll, entzieht es sich und erweist sich als Rätsel. Auch dies ist ein Grund, weshalb sich die Lorbeerkränze von Goethe und Rehhagel in Nicole Simons Inszenierung nicht berühren. Für Goethe waren die Wolken eine „merkwürdige Lufterscheinung“, die als Streichvögel betrachtet werden, „die unter einem anderen Himmel geboren“. Das haben sie mit außergewöhnlichen Meistern wie Goethe und Rehhagel gemeinsam. Viele Menschen begegnen dem Zufall skeptisch, weil sie davon ausgehen, dass alles komplett planbar ist. Aber so ist das Leben, die Dichtung und der Fußball nicht. Denn oft bringt erst der Zufall den entscheidenden Kick. Auch hier gibt es eine unmittelbare Verbindung zu Goethe und dem Stein des guten Glücks - ein Denkmal, das er im Jahr 1777 an der nördlichen Seite seines Gartenhauses an der Ilm und im Sichtfeld des neuen Wohnhauses von Charlotte von Stein hat errichten lassen. Es besteht aus einem Kubus, der für Stabilität und Beständigkeit steht, und einer ruhenden Kugel, die das Unbeständige (Fortuna) symbolisiert. Die Botschaft ist: Sei dir deiner Sache nie sicher – alles kann sich von einem zum anderen Augenblick ändern. Das erfuhr auch Goethe, zu dessen großen Stationen seine Jugend in Frankfurt, das Studium in Leipzig und Straßburg, das Referendariat in Wetzlar, die Kanzleiarbeit in Frankfurt, die Übersiedlung nach Weimar für ein Jahrzehnt, zwei Jahre Italien, dreimal Schweiz, Badekuren und wieder Weimar bis zu seinem Tod gehörten.

„Ich habe in meinem Leben sehr viel Glück gehabt und möchte davon etwas an die Menschen zurückgeben, die nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens standen“, sagte Otto Rehhagel, der seit 2007 dem Kuratorium der Sepp Herberger Stiftung angehört, einmal in einem Gespräch mit Tobias Wrzesinski, dem Geschäftsführer der DFB-Stiftungen. Auch seine frühere Grundschule vergaß er nie: Gemeinsam mit ehemaligen Stiftungsgeschäftsführer Wolfgang Watzke besuchte er im Mai 2011 die Schule an der Rahmstraße in Altenessen. Dort lernen Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam. „Der integrative Ansatz fasziniert mich. Es ist toll, wenn behinderte und nicht nicht-behinderte Menschen sich begegnen. Hier kann der Sport, der Fußball viel Positives bewegen.“ Wenn Kinder begreifen und erfahren, dass ihr Handeln Konsequenzen hat und sie zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen und eigene Entscheidungen treffen können, entwickeln sie eigene Werte und Haltungen, die sie zur Übernahme von Verantwortung befähigen. Wenn sie ermutigt und inspiriert werden, die Nachhaltigkeit des eigenen Handelns zu entdecken, das Miteinander in der Welt, in der sie leben, dann lernen sie, alles mit anderen Augen und mit einem offeneren Blick zu betrachten - aber auch achtsam hinter die Dinge des Alltags zu sehen. Dabei kann Fußball ein wichtiger Hebel sein, denn er gibt Regeln vor, garantiert damit Verlässlichkeit und gleiche Chancen für alle. Kinder erlernen beim Spielen Handlungsfreiheit, Teamarbeit und Resilienz.

Dieses Engagement verbindet ihn auch mit Nicole Simon, die mit ihrem Bild zugleich ausdrücken möchte, „dass jeder im Leben zum Sieger werden kann, wenn er diese Haltung in sich trägt und seinen ideellen Werten folgt und diese weitergibt.“ Seit Jahren setzt sie sich für die Laureus Sport for Good Fundation ein, die 2001 als erste nationale Laureus Stiftung Germany gegründet wurde. Die Kraft des Sports wird hier mit dem Ziel genutzt, benachteiligte Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen und dadurch einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Vermittelt werden Kindern und Jugendlichen Werte wie Teamgeist, Respekt, Disziplin und Fairplay. Auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder aus sozialen Brennpunkten lernen hier über die Kraft des Sports, an sich zu glauben, ihre Ziele zu verfolgen und ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Ehrbares Verhalten ist für den Sportler und die Künstlerin gleichermaßen verbunden mit einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein.

Gerade in den Anfangszeiten des bundesdeutschen Fußballs zeigen sich im Fußball Bezüge zum Ehrbaren Kaufmann. Hier bewegten sich noch viele ehrliche Amateure auf dem Rasen. Inzwischen sind viele Profifußballer Privatunternehmer mit einem entsprechenden Beraterstab: „Heute ist es leider so, dass die Berater ihren Jungens sagen: Ich mache aus dir einen Millionär. Sie sagen nicht: Ich mache aus dir einen guten Fußballer.“ Dieses Zitat von Otto Rehhagel bringt die heutigen Probleme auf den Punkt. Sein bekannter Satz „Geld schießt keine Tore“ hat sehr viel gemeinsam mit der Aussage des Industriellen und Politikers Walther Rathenau: „Ich habe niemals einen wirklich großen Geschäftsmann gesehen, dem das Verdienen die Hauptsache war.“ Echte Motivation, Leistung und Leidenschaft kommt von innen und hat nichts mit Geld zu tun – sie hängt auch mit Bodenständigkeit, gelebten Überzeugungen und Glaubwürdigkeit zusammen. Positive Bezüge finden sich vor allem im Fairplay. Diese Geisteshaltung will Erfolg nicht um jeden Preis erzielen, achtet aber den sportlichen Wettbewerb, Chancengleichheit, Integrität und menschliche Würde. Im Umgang mit seinen Spielern waren Rehhagel immer Werte wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Respekt und Fairness wichtig: „Die große Herausforderung unseres Lebens ist der Umgang mit anderen Menschen. Mir war und ist es wichtig, Zugang zu den Menschen zu finden. Es geht im Sport um Menschenführung und Wertevermittlung.“

Kritisch begleitet Rehhagel aktuelle Entwicklungen im Fußball. „Die Theoretiker des Fußballs sollen kein Computerspiel aus unserem Sport machen. Fußball ist und bleibt unberechenbar.“ Der Journalist, Fernsehmoderator und Sportreporter Waldemar Hartmann sagte mir in einem Interview, dass der „moderne Fernsehexperte“ schon 1982 bei der WM in Spanien im Einsatz war. Damals waren es Hennes Weisweiler und Udo Lattek. 1986 kamen Otto Rehhagel im ZDF und 1990 Karl Rummenigge dazu. Sie dienten in erster Linie als „Netz und doppelter Boden“ für Moderator oder Kommentator. Hartmann bezeichnet Otto Rehhagel als ersten „Großformatsexperten“, der wirklich ernst genommen wurde, denn er konnte taktische und technische Fakten populär erklären. Er sprach noch die Sprache der Straßenfußballer, die alle verstanden. An seiner Seite stand Dieter Kürten, der es wiederum verstand, Rehhagel ins Spiel zu bringen.

Otto Rehhagel wurde 1938 in Altenessen geboren und verlor früh seinen Vater. Schon in seiner Kindheit und Jugend verehrte der Fußballtrainer den Dichterfürsten Goethe, besonders die vertonten Goethelieder wie „Heideröslein“ mochte er. Aber auch der „Zauberlehrling“ und der „Osterspaziergang“ beeindrucken ihn bis heute tief. Dass er viele Goethe-Weisheiten später auf den Fußball übertragen hat, und junge Spieler als Zauberlehrlinge bezeichnete, zeigt, wie tief diese Liebe zum Wort reicht. Auch Schiller hat einen nachhaltigen Eindruck in ihm hinterlassen, vor allem „Die Bürgschaft“. Sein berühmtes Zitat aus seiner Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) lässt sich auch auf den Fußball übertragen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ 1950 begann er beim TuS Helene Essen, wechselte von dort zum Lokalrivalen Rot-Weiß und mit Gründung der Fußball-Bundesliga 1963 zu Hertha BSC Berlin. Dort und beim 1. FC Kaiserslautern bestritt er bis 1972 insgesamt 201 Bundesliga-Spiele. Mit dem Engagement bei Fortuna Düsseldorf stellten sich Anfang der achtziger Jahre nachhaltige Erfolge ein: der erste Sieg im DFB-Pokal 1980.

1981 begann die Ära bei Werder Bremen, die 14 Jahre dauerte. Zweimal holte er die Meisterschale (1988, 1993), zweimal den DFB-Pokal (1991, 1994) sowie den Europapokal der Pokalsieger (1992) an die Weser, 1995/96 war er Trainer bei Bayern München. Nach dem Wiederaufstieg in die Fußball-Bundesliga 1998 holte er den Meistertitel. 2004 wurde er mit Griechenland Europameister: „Modern ist, wer gewinnt.“ Das „Wunder von Lissabon“ ereignete sich genau 50 Jahre nach dem „Wunder von Bern“. Es war der Höhepunkt eines Fußballmärchens, das der damals finanziell angeschlagenen Nation Griechenland zu neuem Glanz verhalf: „Was die Politik versucht, schafft der Fußball. Er ist in der Lage, alle zu vereinen. Alle Menschen werden Brüder“, sagte Rehhagel damals. Dieses Kunststück gibt es nun auch als Dokumentarfilm „King Otto“ (2021) im Kino. Hier schließt sich auch der Kreis zum Foto von Nicole Simon: Der mit blau-weißen Bändern verzierte EM-Pokal wurde im Stadion aufgestellt und mit einem Lorbeerkranz geschmückt. In einem weißen T-Shirt mit dem antiken Lorbeerkranz übernahm Rehhagel einen Tag vor seinem 66. Geburtstag auf der weltweit größten Hängebrücke (Harilaos Trikoupis) zwischen Rio und Antirrio um 18.48 Uhr das olympische Feuer. Er lief die 400 Meter und übergab die Flamme an den Coach der griechischen Fußball-Olympiaauswahl, Stratos Apostolakis. Die Stadt Athen verlieh ihm die Ehrenbürgerwürde, und 2004 wählten ihn die Leser der Zeitschrift "Ta Nea" gar zum "Griechen des Jahres". 2010 verabschiedete sich Otto Rehhagel im Alter von 72 Jahren von der Fußballbühne. Das, was bleibt, ist unvergänglich, wie das Bildkunstwerk von Nicole Simon zeigt.

Das hier beschriebene Foto wird in einem Goethe-Bildband der Fotokünstlerin erscheinen.

  • Dieter Borchmeyer: Der unfruchtbare Lorbeer. Über ein Existenzsymbol des modernen Dichters. Goethe – Grillparzer – Richard Wagner. In: Wittkowski, Wolfgang (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984: Niemeyer, 148–162.

  • Johann Wolfgang von Goethe: Torquato Tasso. Ein Schauspiel. Leipzig: Göschen, 1790. [Deutsches Textarchiv].

  • Johann Wolfgang von Goethe: Den 12. September 1787. In: ders.: Italienische Reise. Goethes Werke in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 11: Autobiographische Schriften III. München: C. H. Beck, 2002, 397.

  • Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Springer Gabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2018.

  • Tobias Wrzesinski in: Jahresbericht 2011 der DFB-Stiftung Sepp Herberger.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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