Zeit für Höflichkeit und gute Manieren
Interview mit Fabrizio Galli Zugaro
Herr Galli Zugaro, in den vergangenen Jahren wurde das Bedürfnis nach einer Neubewertung der Manieren immer größer. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Nach meinem Empfinden ist insgesamt der Leistungsdruck in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Alles muss schneller, flexibler, genauer, fehlerfreier geliefert werden, ansonsten wird man von der Konkurrenz überholt und links liegen gelassen. Vom Menschen, der vor vielen Jahren eher den natürlichen Rhythmen der Natur folgen durfte, wird heute verlangt, wie ein Computer-Laufwerk zu funktionieren. In diesem Zusammenhang verkürzen sich Zeiten für das Erfüllen von beruflichen Aufgaben. Ist da noch Zeit für Höflichkeit? Leider haben es viele so gesehen, dass im Büro keine Floskeln der Etikette Platz haben, alles muss schnell und ohne unnötige Umschweife passieren. Die Folge ist eine Atmosphäre der Kälte und Unfreundlichkeit. Zum Glück haben einige Führungskräfte erkannt, dass auf Dauer mit den Mitmenschen (Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) nicht zu rau und unfreundlich umzugehen ist.
Die gute Arbeitsatmosphäre ist für einige Unternehmen wichtiger geworden, bzw. ist überhaupt ein Thema geworden, früher eher unbekannt. In Mitarbeiterumfragen kristallisierte sich oft heraus, dass viele an der unfreundlichen, unmanierlichen und empathielosen Stimmung im Buero leiden. Gut, dass jetzt erkannt wurde, dass diese sogenannten Soft Facts gar nicht so soft sind, sondern wichtig für das Wohlbefinden der Menschen, mit merkbaren Resultaten in der Produktivität, den ökonomischen Ergebnissen und der Weiterempfehlungsrate von Unternehmen.
Braucht es heute ein Update eines zivilisierten und kultivierten Menschen?
Ja. Erstens hat die Technologie unsere Kommunikationskanäle rapide erweitert. Es besteht die Gefahr, dass die Kommunikation, die der Sender der Information geschützt von seinem Smartphone, Tablet und PC in den Äther stellt, forsch, unpersönlich und roh wirkt. So wie der Autofahrer, der sich hinter seinen vier Autowänden stark fühlt und aggressiv im Straßenverkehr ist. Zweitens - nicht unwichtiger (im Gegenteil) - ist die Diversity- und Gender-Thematik. Was noch vor wenigen Jahren von der herrschenden Männerwelt an Sprüchen, Witzen und spöttischen Aussagen gegenüber Frauen und „Anderen“ gemacht wurde, ist heute im Großen und Ganzen schlicht unangebracht, tabu (aber leider noch längst nicht abgeschafft). Der Gentleman von vor 200 Jahren oder mehr, derjenige, der vor der Französischen Revolution an der Gesellschaftlichen Spitze war, könnte heutzutage nicht so locker die damals hoffähigen und „normalen“ Aussagen zur Diversity treffen.
Also, die Antwort auf die Frage: Ja, ein Update ist nötig, eine Version „Knigge plus“ ist heute erforderlich. Aber der kultivierte und zivilisierte Mensch weiß das schon.
Was macht den Gentleman 21.0 aus?
Er ist sich bewusst, dass seine Höflichkeit, seine guten Manieren allen Menschen gegenüber anzuwenden sind. Ich meine damit, der Respekt gilt heutzutage gleichermaßen allen Menschen, ungeachtet des Geschlechts, der Religion, der ethnischen Herkunft, der sexuellen Ausrichtung. Die Frau wird weiterhin vom Gentleman geschützt, aber nicht als armes hilfloses Wesen, sondern einfach als gleichberechtigter Mensch, der gerne gut behandelt wird. Der Gentleman 21.0 bewegt sich souverän und natürlich in jeder Lebenssituation, kann mit Personen jeder Herkunft angenehme und wertschätzende Gespräche führen und schließt sich nicht mehr in seiner konservativen, ursprünglichen Herkunftswelt ein.
Wie kann es gelingen, dass wir uns in einer von Rüpeln und Zynikern geprägten Wirklichkeit nicht verlieren?
Da fällt mir der Spruch ein, den ich immer wieder gerne zitiere, meiner Großmutter Prinzessin Fabiola Massimo d‘Arsoli, Tochter des Prinzen Fabio Massimo d‘Arsoli und I.H. Beatrice Bourbon. Als ich Kind war, kam ich eines Tages zurück nach Hause, und meine Großmutter Fabiola war bei uns in Essen zu Besuch. Ich fragte sie: „Großmama, wie soll ich mich denn verhalten, wenn in der Schule ein Junge sehr ungezogen zu mir ist?“. Sie antwortete: „Mein lieber Enkelsohn, ich sage Dir, was vor vielen Jahren Graf von Chesterfield sagte: Den schlechten Manieren der anderen begegne mit guter Erziehung“. Das ist oft schwer einzuhalten, aber die eleganteste Antwort für Rüpel und Zyniker.
Ex-Nestlé-Chef Helmut Maucher sagte 2012 im manager magazin, dass Anstand, soziales Empfinden und Verantwortungsgefühl in vielen Chefetagen fehlen. Was hat sich hier inzwischen geändert?
So langsam tut sich etwas. Wie ich vorhin sagte, wird es Führungskräften bewusst, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Wichtigste sind, was es in der Firma gibt. Es gibt gute Beispiele von Unternehmern und Managern, die für die Belegschaft Programme ins Leben gerufen haben, die im vorigen Jahrhundert nicht denkbar waren. Ich spreche von der 4-Tage-Woche bei fünf Tagen Gehalt (mit vollen Sozialleistungen), ich meine unerwartete Boni für gute Geschäftsjahre oder Unterstützungsprogramme für Mütter oder Väter, die Arbeit und Familie harmonisch gestalten möchten. Es gibt Diversity- und Genderbeauftragte, Glücksminister und vieles mehr. Aber vieles ist noch zu tun. Eine Veränderung ist in Gang.
Wer persönlich und beruflich „erfolgreich“ sein möchte, muss vor allem durch eine reife Persönlichkeit überzeugen. Doch wie können Führungskräfte die gewünschten Eigenschaften für ihre Selbstentwicklung erwerben?
Eine extrem interessante Thematik, die Sie hier ansprechen. Als erster Schritt zur Selbstverwirklichung ist es notwendig, das Bewusstsein zu erlangen, dass überhaupt etwas zu verändern ist. Viele Menschen arbeiten und tun Dinge, zu denen sie nicht stehen. Vertriebler verkaufen Produkte, die sie selbst nie kaufen würden. Menschen gehen montags ins Buero (soweit Corona das erlaubt), und sind dabei unglücklich, frustriert, genervt. Aber sie brauchen das Gehalt. Und deshalb akzeptieren sie Dinge, die gegen ihre Werte und Wünsche sind. Wer hier helfen kann, ist zum Beispiel ein*e professionelle*r Coach, der/die der Führungskraft Unterstützung dabei gibt, die eigenen Fähigkeiten herauszuarbeiten. Viele sind sich gar nicht bewusst, was sie eigentlich anders machen könnten, und dabei glücklicher sind.
Wie könnte der Coachingverlauf aussehen?
1. Herausarbeiten der Ziele, die einer wirklich erreichen will, weil sie ihn/sie glücklich machen.
2. Abschütteln der Dinge, die einem nicht guttun.
3. Aktionsplan zur Veränderung machen.
4. Vorbereitende Aktivitäten beginnen (Umschulung, Weiterbildung, Sabbatical, Buch schreiben und vieles mehr).
5. Change durchziehen.
Zusammenfassend: Tue das, was Dir liegt, Deinen Werten und Deinen inneren positiven Eigenschaften entsprechend. Tue nicht mehr das, was nur andere von Dir wollen, wenn es Dir weh tut.
Es gibt den Business-Knigge, den Ess- und Tisch-Knigge, den Auslands-Knigge, den Knigge für Weintrinker, den Reiter-Knigge und schließlich sogar den Erotik-Knigge. Was halten Sie von solchen Benimm-Büchern?
Meine Haltung zu den Benimm-Fibeln ist ganz klar: Man lese Sie als Indikation, als Tendenz weisend, als Leitfaden, aber ohne Sturheit und orthodoxe Brille. Alle Regeln, sofern alles im Rahmen des Legalen bleibt, sollen der Situation, der Kultur, der Umgebung angepasst werden. Die Leserin/der Leser sollte die Inhalte kenne, aber selber entscheiden, in welcher Ausprägung diese Regeln zu leben sind.
Und noch eins: zu prüfen, wer diese Bücher geschrieben hat … worin besteht die Kompetenz? Wer sagt mir, was richtig und was falsch ist? Es gibt nämlich auch viele Büchlein, die fragwürdige Regeln als Inhalte auflisten.
Welche Rolle spielt Adolph Freiherr Knigge, dessen Buch „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) sich mit „guten Umgangsformen“ beschäftigt, in Ihrer Arbeit?
Viel. Adolph Freiherr von Knigge war nicht jemand, der ein Benimm-Dich-Handbuch geschrieben hat. Sein Buch entstand in einer Zeit, die die Basis (wertfrei: im Guten wie im Bösen) der aktuellen modernen Welt geschaffen hat. Existierende Strukturen wurden in Frage gestellt, das Bürgertum erlangte die Möglichkeit, im politischen Geschehen eines Landes mitzuwirken, und die Werte der Aufklärung wurden so langsam salonfähig. Im „Über den Umgang mit Menschen“ findet man nicht, wie die Gabel und der Loeffel beim Essen gehalten werden, oder ob man die Spaghetti mit oder ohne Loeffel auf die Gabel rollt (bitte ohne!). Das Buch ist eine der ersten Abhandlungen über sozio-psychologisches Verhalten mit unseren Mitmenschen. Auffallend sind dabei Aussagen, die heute für uns als „normal“ gelten, aber vor 230 Jahren revolutionären Charakter hatten.
Ich merke, ich schweife aus. Verzeihung. Für meine Arbeit ist der Ansatz wichtig, so zu leben, dass es meiner Umwelt, den Mitmenschen gut geht, wenn sie in meiner Anwesenheit sind. Wenn es den Mitmenschen mit uns gut geht, und wir uns dabei wohlfühlen, ohne dabei unsere Authentizität zu verlieren, dann ist das erreicht, was ich als gut und richtig empfinde. Das hat mir Adolph Freiherr von Knigge mit seinem „Bestseller“ mitgegeben.
Weshalb bewegen royale Events so viele Menschen weltweit? Weil sie neben Glamour und Schönheit auch die tiefe Sehnsucht nach Orientierung, Traditionen und Werten widerspiegeln?
Beides stimmt. Was die meisten Menschen nicht lassen können, ist Neugier, Tratsch und Klatsch sowie Gossip zu „pflegen“. Das ist, vor allem wenn der Tratsch Schaden anrichtet, unschön und äußerst unelegant. Klatschzeitungen sind weltweit die am häufigsten gelesenen Zeitungen und Magazine. Das unterhält die Menschen und lässt sie träumen.
Richtig ist aber auch, dass Orientierung gesucht wird, dass Tradition Charme hat und Werte derzeit rar sind. Es gibt noch viele Königshäuser in Europa, die in der Öffentlichkeit eher diskret auftreten, die anderen etwas lauter. Außer den immer wieder passierenden Skandalen und faux pas einiger Familienmitglieder und deren angeheirateten Partnern, gibt es Figuren in Königshäusern, die sehr von der Bevölkerung geliebt sind. In einigen Ländern ist liegt Akzeptanz der Monarchie bei 80 bis 90 Prozent. Davon träumen einige demokratisch gewählte Staatsoberhäupter. Das sollte zum Nachdenken anregen. Ist vielleicht eine korrekte Haltung, eine gute Umgangsform, ein höfliches und elegantes kommunizieren nicht genauso wichtig wie politische und technische Führungsfähigkeiten?
„Uns selbst zu achten leitet unsre Sittlichkeit; andre zu schätzen regiert unser Betragen.“ Was bedeutet Ihnen dieses Goethe-Zitat?
Unglaublich viel. Wenn unser selbstreflektiertes Sein, unser authentisches Verhalten im Einklang mit dem Respekt anderer gegenüber im Einklang ist, ist der Alltag schön. Wäre es in der ganzen Welt immer so, würde es keinen Krieg, keinen Hass, keine Bosheit geben.
Innerer Zusammenhalt war bei Goethe mit dem „unentbehrlichen, scharfen, selbstischen Prinzip" - mit einem „gesunden" Egoismus - verbunden kann. Weshalb braucht es diesen, um sich fokussieren und konzentrieren zu können?
Wenn jemand vollständig bei sich ist, wenn seine/ihre Energie insgesamt positiv ist, gut kanalisiert wird und aus innerer Überzeugung generiert wird, ist man offen für alles. Offen dafür, Neues zu lernen, Fehler zu erkennen und einzugestehen und sich verbessern zu wollen. Fällt es jemandem leichter, Anderen Dinge zu erklären, die sie/er mag, liebt und versteht oder ist das Gegenteil natürlicher? Ein Beispiel: Jemand kocht leidenschaftlich gerne, kann dies aber fast nur am Wochenende praktizieren. Im Büro hingegen ist diejenige/derjenige eher unmotiviert, ja frustriert. Schauen Sie sich diese Person an, wenn sie am Samstag einen ganz besonderen sous vide Braten vorbereitet. Sie/er strahlt dabei, ist total konzentriert, etwas Wundervolles vorzubereiten und ist glücklich, wenn alle am Tisch sein Meisterwerk genießen. Und dann stellt Euch seinen Gesichtsausdruck am Montag früh vor, wenn sie/er traurig ins Büro fährt, und seinen Mitmenschen gegenüber ständig lamentiert, wie schlecht alles in der Firma sei. In welchen dieser Situationen ist der gleiche Mensch fokussiert und konzentriert und gibt sein Bestes?
Manieren und Höflichkeit stehen allerdings auch schon immer im Verdacht der Täuschung. "Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist", heißt es in Goethes „Faust“. Diese Form des Anstands hat keinen Inhalt und erzeugt deshalb Misstrauen. Weshalb machen antrainierte Gesten und die Hingabe an neueste Managementtools Manager nicht glaubwürdiger?
Weil sie nicht authentisch sind, weil sie es nicht „im Blut haben“ und eigentlich selbst nicht daran glauben. Man kann Formen, Verhaltensweisen lernen, aber wenn die intrinsische Motivation fehlt, ist Goethes Aussage aus dem „Faust“ korrekt (ich hoffe hier nicht unangemessen zu sein, Goethe zu bewerten). Deshalb versuche ich in meinen Kursen den Schwerpunkt auf den Respekt anderen gegenüber, auf Empathie und Akzeptanz, zu legen. Die sturen Regeln, nach dem Motto „so ist es richtig und so ist es falsch“, sind nicht der Kern des Veränderungsprozesses in Richtung des guten Umgangs.
Eine typische Aussage von denen, die kein gutes Benehmen pflegen, ist dieser: „ich ziehe die Substanz der Form vor“. Triviale Aussage, für mich ein klares Alibi und der Passierschein dafür, unhöflich, rau und unangenehm zu sein. Umgangsform ist keine inhaltslose Seifenblase, sondern ein Element in der Kommunikation und dem Zusammensein unter Menschen, der den Unterschied zwischen Unangenehm und Angenehm, zwischen Gut und Schlecht, zwischen Sympathisch und Unsympathisch ausmacht.
Also, liebe Manager, eignet Euch ruhig Manieren, Anstand und Höflichkeit an, aber nur, wenn Ihr wirklich daran glaubt, dass es für Euch das Richtige ist. Ansonsten glaubt Euch das niemand.
Zur Person:
Fabrizio Galli Zugaro wurde 1963 in Rom geboren. Nach Schulbesuchen in Essen und in Rom, Studienzeit und einer dreijährigen Zeit als Offizier bei den Carabinieri, zog er in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wieder nach Deutschland. Nach der deutschen Wiedervereinigung ging er in den „Osten“, um beim Wiederaufbau als Banker mitzuwirken. Irgendwann kam wieder der Drang, in sein Vaterland Italien zurückzugehen. Beruflich arbeitete er 30 Jahre im Bankwesen in verschiedenen Funktionen, immer im Kundenkontakt. Bis Mai 2020 war er Vertriebsvorstand einer regionalen Bank im Norden Italiens. In seinem Leben ist er etwa zwanzig Mal umgezogen und lebte in neun verschiedenen Städten zwischen Italien und Deutschland. Heute tut er das, was ihm am meisten gefällt: Er unterstützt Menschen mit Coaching, Mentoring und Trainings. Kurse über Verhalten und gute Manieren laufen derzeit online (Italienisch, bald auch auf Deutsch). Weiterführende Informationen: www.fabriziogallizugaro.com.