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Zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigkeit: Wo steht unsere Gesellschaft?

Das aktuelle Weltgeschehen und die damit verbundenen Herausforderungen führen bei vielen Menschen zu Unsicherheiten und Ängsten.

„Die Gesellschaft weist eine starke Tendenz zur Pathologisierung sozialer Problemstellungen auf“, sagt der Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychologe Prof. Wolfgang Schneider, der von 1995 bis 2018 Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin in Rostock war.

Neben dem klinischen Fokus gilt sein Interesse auch sozialpolitischen Themen sowie der Weiterbildung in Psychotherapie und Psychosomatik für Ärzte und Psychologen. In seinem aktuellen Buch „Eine Gesellschaft zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigkeit“ widmet er sich den gesellschaftlichen Zugkräften, die auf Menschen einwirken und damit verbundenen Entwicklungen: Digitalisierung, Flüchtlingsströme, Globalisierung, Hungersnöte, demografischer Wandel, Finanzmärkte, Klimakrise, Komplexität, Kriege, Leistungsdruck, Pandemiegeschehen und Terrorismus.

Daraus resultiert ein hoher Druck auf den Einzelnen, sich in diesen Situationen zurecht zu finden, denn Lebensentwürfe brechen weg oder drohen zu fragmentieren. Das führt bei vielen Menschen zu depressiven Problemen, zum Verlust des Selbstwertgefühls der Fähigkeit zur Selbstregulation, zu narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierungen.

Wolfgang Schneider geht in diesem Kontext auch einige Jahre zurück und verweist beispielsweise auf den Dieselskandal und seine Verantwortlichen, die kein kritisches Bewusstsein für umweltschädigendes Verhalten hatten. Viele Manager nahmen die Empörung über ihr Verhalten gar nicht wahr. So hielt der damalige VW-Chefs Matthias Müller einem Reporter des US-Radiosenders NPR auf die Aussage, dass die Amerikaner im jahrelangen Betrugsskandal ein ethisches Problem sehen, entgegen: „Ethisches Problem? Ich kann nicht verstehen, warum Sie das sagen.“ Er sprach vielmehr von einem „technischen Problem“.

Kein Wort davon, dass das Unternehmen jahrelang gegen Gesetze verstoßen und Kunden betrogen hat. Das Problem ist, dass solche Menschen regelmäßig das Risiko ihrer unüberlegten und oft spontanen Handlungen falsch einschätzen und deshalb das Unternehmen, das sie führen, an die Wand fahren, weil sie sich als Narzissten selbst überschätzen.

Sie kommen nicht nach oben, weil sie intelligenter, kompetenter oder sozialer als andere, sondern weil sie gemeiner, aggressiver und schamloser sind.

In ihrem Buch „Warum die Sache schiefgeht“ verweist Karen Duve auf die Ursache in ihrem Gehirn: „Es handelt sich um einen Defekt im paralymbischen System, das für Impulskontrolle sorgt und moralische Entscheidungen trifft. Dort werden unsere Erfahrungen an Gefühle gekoppelt. Bei Psychopathen ist dieser Hirnbereich weniger aktiv und strukturell schwächer.“ Deshalb sind sie nicht fähig, Reue, Scham oder Mitgefühl zu empfinden (ein Fehler an der Amygdala).

Aufgrund der fehlenden Empathie können sie ihre Ziele gnadenlos verfolgen. Menschen werden von ihnen danach „gescannt“, inwiefern sie als Selbstobjekt verwendbar sind oder verwendbar gemacht (manipuliert) werden können. Der Wert des anderen ergibt sich nicht aus dessen Sein an sich, sondern aus dessen Nutzen für die „narzisstische Regulation“. Ihr Leben ist ganz von außen gesteuert, weshalb es sich niemals selbst begegnen kann. Alles, was sie tun, folgt einem inneren Stressprogramm, was auch ihre Sprunghaftigkeit und Unruhe erklärt.

Rücksichtslose Ichlinge sind überempfindlich, schnell beleidigt, und verzeihen nie, sie entwerten andere und betrachten ihre Mitmenschen als Manipulationsmasse, um ihre Ziele zu erreichen. Oft sind sie charismatisch, aber dadurch eben auch gefährlich, weil sie sich (durchaus ihrer Wirkung bewusst) häufig nicht an Regeln halten und auch polarisieren.

Oft sind sie impulsiv und neigen sie zur Eitelkeit. Echte Leader stützen sich bei der Lösung ihrer Aufgaben nicht auf Charisma, sondern führen sachlich und vernünftig durch Selbstdisziplin und durch Vorbild, nicht durch Parolen und Hurrageschrei.

Um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern, liegen nach Ansicht von Wolfgang Schneider häufig weniger in speziellen Unterstützungen durch Ex pert:innen, sondern eher „in der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie der Umorientierung des eigenen Wertesystems.“ Schneider beschäftigt sich aber auch mit den individuellen Voraussetzungen für den Erhalt eines stabilen Identitätsgefühls, denn der enorme Druck der aktuellen Ereignisse führt auch zur Bedrohung oder zum Verlust der eigenen Identität. Die Frage danach zentral für unser Selbstverständnis, für unsere Einstellung gegenüber unseren Mitmenschen, gegenüber unserer Umwelt und uns selbst.

Junge Menschen brauchen auch Bestätigung, sinnvolle Aufgaben und positive Antworten auf die drängenden Fragen „Wer bin ich?“, „Was kann ich?“, „Wozu bin ich da?“, „Wohin gehöre ich?“, „Was wird aus mir?“ Wenn sie keine oder kaum Möglichkeiten haben, ihre Identität zu leben, bleibt ihnen oft nur noch der Körper als Kapital, den sie entsprechend „modellieren“ sowie Anerkennung- und Aufmerksamkeit vor allem in Social Media suchen. Es ist deshalb wichtig, ihnen Aufgaben und Verantwortung so früh wie möglich zu übertragen, die sie nicht als „Opfer“ empfinden, sondern als innere Erfüllung.

  • Am Puls der Zeit: Gesellschaft in Angst

  • „Als Unternehmer geht es um Verantwortung, nicht um Selbstdarstellerei“: Interview mit Matthias Krieger

  • Die Krise der Welt: Warum Anstand und Bildung auf der Verliererseite sind

  • Dietmar Hawranek: Demut? Wieso Demut? In: Der Spiegel 2/2016, S. 72.

  • Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Karen Duve: Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen. Verlag Galiani, Berlin, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.

  • Matthias Krieger: Werte. Das Fundament unserer Leistungskultur. Dingelstedt 2022.

  • Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis. Ecowin Verlag, Salzburg 2013.

  • Alexandra Hildebrandt: Manieren 21.0: Warum gutes Benehmen heute wieder salonfähig ist. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

  • Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm. C. H. Beck, München 2013.

  • Tillmann Prüfer: Psychopathen ganz oben. In: Handelsblatt (9. Juni 2014) S. 35.

  • Wolfgang Schneider: Eine Gesellschaft zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigkeit. Hogrefe Verlag, Bern 2022.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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