Zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht: Die Wendezeit als Experimentierfeld
„Die alte Ordnung löste sich auf, in rasender Geschwindigkeit“, schreibt Lutz Seiler in seinem Roman „Stern 111“ (Name eines ostdeutschen Kofferradios) über die Zeit nach dem Mauerfall, als die DDR zwar noch formal existierte, aber die Grenzen schon geöffnet waren. Es war eine Situation des Nicht-mehr und Noch nicht. Das Buch, das 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Belletristik“ ausgezeichnet wurde, ist allerdings weitaus mehr als „nur“ ein Zeitroman, der einmal gelesen und dann abgelegt wird. Es ist zugleich ein Zeitdokument und Bewusstseinspanorama der inneren Geschichte eines Berufenen, dessen Eltern, um die 50, gleich nach dem Mauerfall ihr bisheriges Leben in der DDR zurücklassen und eine neue Existenz als leicht auszubeutende Arbeitskräfte im Westen beginnen.
Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, ob die Grenzen wirklich offenbleiben werden.
Ihr Sohn Carl bleibt in Gera zurück. Die Eltern stehen auch symbolisch für die vergangene Zeit. Sie waren „sicherer Boden, unanfechtbar, ureigenes Gebiet, auf das man sich zurückziehen konnte in der Not“ – alles Verlässliche, Tragende und Stabile gab es nun nicht mehr. Umso wichtiger war es, wenigstens eine künstliche Ordnung im Kleinen herzustellen, wenn es sie schon im Großen nicht gab. So begann Carl „sofort mit dem Aufräumen und säuberte die Wohnung, so gut er es vermochte. Er versuchte, die alte Ordnung wiederherzustellen, in jedem Detail, als wäre inzwischen gar nichts geschehen.“
Das Wort Ordnung, das über die Architektur ins moderne Denken kam, stand ursprünglich für ein Ganzes: Alle Teile passten zusammen, und keines konnte ersetzt werden, ohne die Harmonie zu zerstören. Im Buch gibt es sie nur noch in Gedanken des Endzwanzigers, der seine Existenz zwar als „gut begründet“ empfindet, aber nicht gesichert. Er geht in den Ostberliner Underground, wo der Gralshüter der Utopie „Der Hirte“ ist, dem sich vielen jungen Menschen zugehörig fühlen. Sie können nur existieren, weil sie Werkzeug von Westberliner Baustellen stehlen und Berliner Mauerstücke an Touristen und nach Übersee verkaufen. Auch werden Wohnungen aus den Abbruchhäusern des Prenzlauer Bergs besetzt. Aber vielleicht ist gerade eine solche Schwellensituation die Voraussetzung eines poetischen Daseins, das sich Carl - der den Beruf eines Maurers erlernte und als Maurer gearbeitet hat, sich aber eigentlich als Dichter fühlt – so sehr wünschte.
Er schwor sich, sein Leben nun ernsthaft anzugehen.
„Die Arbeit an den Gedichten. Das Buch – als Fernziel. Ein eigenes Buch! Er musste nur diszipliniert sein, arbeiten, schreiben, dann war alles möglich.“ Vieles erinnert auch an den Autor Lutz Seiler, der in Gera eine Berufsausbildung mit Abitur als Baufacharbeiter abschloss und als Zimmermann und Maurer arbeitete. Während seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee (NVA) wurde sein Interesse für Literatur geweckt, und er begann selbst zu schreiben. Bis Anfang 1990 studierte er Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale). 1990 ging er nach Berlin. Von 1993 bis 1998 war Seiler Mitbegründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift moosbrand. Seit 1997 leitet er das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam.
Sein literarisches Schaffen ist geprägt durch den Dichter Rainer Maria Rilke, von dem auch das Einleitungszitat im Roman „Stern 111“ ist. Die Zahl bezieht sich hier zugleich auf das Bestehen der DDR: „Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.“ („Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“) Rilkes Diktum „Ich muss“ verfolgte auch Seilers Protagonist Carl. Franz Xaver Kappus, einem jungen Poeten, der sich zum Dichter berufen glaubt und Rilkes Meinung über seine noch unveröffentlichten Werke hören möchte, empfiehlt er 1903: "Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: m u ß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen 'I c h m u ß' dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden in diesem Drange.“ Dazu braucht es Konzentration und Geduld, was umso schwerer ist in einer instabilen Welt „von fragwürdiger Beschaffenheit“, die aber „reparabel“ ist.
Reparieren bedeutet, Dinge wieder in Gang zu setzen, aber auch Neues zu schaffen.
Das Machen der Dinge gelingt allerdings nur durch das Zusammenspiel von Kopf und Hand. Das bestätigt auch Richard Sennett in seinem Buch "Handwerk" (2008). Der Handwerker symbolisiert für ihn und Seilers Protagonisten das engagierte Tun: „Wie eine alte, fast schon vergessene Zufriedenheit sog Carl den beißenden Geruch des Kalks in seine Lungen ein. Die Arbeit, die ihm half, klar zu denken und zu handeln, tat ihm gut, sie war ein direkter, sichtbarer Ausdruck seiner Fähigkeiten. Er spürte die Würde, die im richtigen Gebrauch des Werkzeugs lag, und nach und nach erinnerte sich sein Körper an jedes Detail, jeden einzelnen Handgriff.“ Die Grundlage des menschlichen Erkennens hat für ihn mit begreifen zu tun, das von greifen kommt. Leider wird der tiefe Zusammenhang von Werkzeug und Werk immer mehr vergessen.
„Was kommen würde, war eine Welt ohne das Hand-Werk, eine künstliche Welt ...“
Literatur:
Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020.
Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter. Leipzig 1950 (Insel-Bücherei Nr. 406).