Arbeit des Herzens: Zur Aufwertung der Pflegeberufe
In den vergangenen Jahren wurden wohlhabende Gesellschaften von den Interessen und Werten weniger Hochgebildeter dominiert. Funktionsmacht hatten überwiegend akademisch Ausgebildete. Kognitive, analytische Fähigkeiten wurden höher bewertet und „Kopf-Kompetenzen“ zu stark honoriert. Das führte dazu, dass der Beitrag der scheinbar „einfachen“ Handwerks-, Technik- und Pflegeberufe unterbewertet wurde. Doch die Corona-Krise hat jene Menschen, die nahezu unsichtbar die täglichen Abläufe in unseren Leben aufrechterhalten, ins Licht gerückt: die Regalauffüller in den Supermärkten, die Lieferwagen-Fahrer und Pflegekräfte. Diese „systemrelevanten“ Menschen haben nur selten Universitätsabschlüsse. „Natürlich brauchen wir wissenschaftlich-akademische Intelligenz. Das hat sich in den internationalen Kooperationen, die die COVID-Impfstoffe hervorgebracht haben, eindrucksvoll gezeigt. Dennoch ist nur eine winzige Anzahl von Menschen in der Lage, neues Wissen zu erzeugen, und wir müssen nicht 50 Prozent der Schulabgänger in Universitätskurse schicken, um eine aufblühende wissenschaftliche Forschungsbasis zu haben“, sagt der britische Journalist und Autor David Goodhart, der die Unterscheidung zwischen Somewheres und Anywheres geprägt hat und Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre Deutschlandkorrespondent der Financial Times war.
In seinem aktuellen Buch „KOPF, HAND, HERZ – Das neue Ringen um Status“ plädiert er für mehr Solidarität und Wertschätzung für die Menschen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten und eine neue Gewichtung von Belohnung und Status. Benötigt wird zudem eine breitere Definition von Leistung und Fähigkeiten, die sich weniger auf kognitiv-analytisches Vermögen beschränkt. „Wir leben in einer Welt des Kopfs und insbesondere der linken Hirnhälfte … Die rechte Hirnhälfte ist dagegen der Ort der Ganzheit und des Geheimnisses, mit einer großen Toleranz für das, was sich nicht sagen oder verstehen lässt.“ Universitäten bilden allerdings noch immer eine große Zahl an Absolventen mit kognitiven Fähigkeiten aus. Es wurde das erreicht, was er "Peak Head" nennt. Die Wissensökonomie benötigt jedoch nicht so viele Wissensarbeiter, wie die zahlreichen Absolvent:innen in nicht-akademischen Berufen zeigen.
Währenddessen gibt es einen anhaltenden Fachkräftemangel in handwerklichen und technischen Berufen sowie Personalmangel bei Pflegeberufen, in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Eine Gesellschaft, die Handwerk und soziale Berufe geringschätzt und schlecht bezahlt, droht aus der Balance zu geraten. Deshalb plädiert er für eine Aufwertung von Hand und Herz, die auch politische Maßnahmen verlangt, die die Bevorzugung der kognitiven Kompetenzen abbauen, die Einkommen der Sozialwirtschaft verbessern, handwerkliche Fähigkeiten aufwerten und lebenslanges Lernen fördern. In der Pandemie sieht er einen wichtigen Anstoß für diesen Wandel. Die Pflege von Kranken gelten seit jeher als „intuitive“ Fähigkeiten – und werden weiterhin wichtig bleiben, denn der Pflegebereich bietet zwar Einsatzmöglichkeiten für intelligente Technologie, doch die meisten Aufgaben lassen sich nicht automatisieren und an Maschinen delegieren.
Zum Aufgabenspektrum gehört neben der Pflege die Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten und Ergotherapeuten, die Unterstützung bei Mobilisierungsmaßnahmen, Überwachung und Steuerung der Medikamenteneinnahme nach ärztlicher Vorgabe und die Dokumentation der Pflegeprozesse (Quelle: Neumüller Personalberatung). Medizinisches Grundwissen und die Übernahme vieler Aufgaben von Ärzten sind heute selbstverständlich. consil med, ein Bereich der Neumüller Unternehmensgruppe, der medizinisches Fachpersonal mit Top-Arbeitgebern aus dem Gesundheitsbereich zusammenbringt, verweist in seinen Ausschreibungen aber auch darauf, wie wichtig eine abgeschlossene Ausbildung beispielsweise zum Altenpfleger (m/w/d) ist – aber auch und vor allem Zuverlässigkeit und ein “empathisches und hilfsbereites Wesen“. Die Zukunft der Pflege ist für Werner Neumüller, Geschäftsführer der GmbHs der Neumüller Unternehmensgruppe, der sich seit Jahren für eine bessere Bezahlung und gegen schlechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen einsetzt, eine Kombination aus technisch-kognitiven Kompetenzen und Soft Skills. Geld allein schafft allerdings keine Pflegekräfte – im Fußball schießt Geld auch keine Tore! Wertschätzung und Anerkennung haben für ihn auch nicht nur mit attraktiver Vergütung und übertariflichen Zuschlägen zu tun, sondern auch mit individuellen Arbeitszeitmodellen, unbefristeten Verträgen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Mitsprache bei der Dienstplangestaltung und Weiterbildungen.
Worauf es ankommt, bringt David Goodhart in seinem Buch auf den Punkt: „Das Entscheidende ist, dass wir Status, Anerkennung und Einkommen gerechter auf Kopf-, Hand- und Herzkompetenz verteilen.“
David Goodhart: KOPF, HAND, HERZ – Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Penguin Verlag, München 2021.
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021.
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2021 (ersch. im Herbst).