Ausgereizt – einer geht noch! Dauert der Bewerbungsprozess zu lange, sind die Kandidat:innen weg, altersunabhängig
Seit über 20 Jahren bin ich nun schon in der spannenden, sich stetig verändernden Welt der Karriere und des Personals zu Hause. Ich habe einen dominierenden Arbeitgebermarkt und aktuell auch einen für die Unternehmen herausfordernden Arbeitnehmermarkt erlebt.
Wenn man heute nach den Gründen fragt, wie man es schafft, dass sich Bewerber: innen für ein Unternehmen entscheiden, so ist eine Antwort stets ganz weit oben zu finden. „Einen schnellen Bewerbungsprozess.“ Ich könnte Sie jetzt mit Artikeln über Untersuchungen, Befragungen und Interviews „zumüllen“. Ob sich nun 61 % der Bewerber nach bereits einer Woche eine verbindliche Rückmeldung zu ihrer Bewerbung wünschen oder über 66 % der befragten Arbeitnehmer einer Studie sich eher für ein Unternehmen entscheiden, bei dem der Bewerbungsprozess schnell und unkompliziert ist, zeigt doch eines ganz deutlich. Eine Bewerbung sollte nie zu einem „Langzeit-Studium“ auswachsen, sondern zügig bearbeitet werden. Immerhin suchen die Menschen einen Job und keinen Zeitvertreib oder Prüfungen, die sich fast unendlich in die Länge ziehen. Das klingt doch logisch, sollte man meinen. Oder nicht?
Nehmen wir einmal eine einfache Erklärung. Sie wissen, ich mag es nicht zu kompliziert. Also, eine Person bewirbt sich, sie wird zu einem Gespräch eingeladen. Heutzutage auch gern virtuell, wie auch immer. Nehmen wir an, im sogenannten Erst- oder Kennenlerngespräch überzeugt die Person. Daraufhin möchte man ein zweites Gespräch führen, diesmal im Unternehmen selbst. Auch im zweiten Gespräch wird der erste, sehr gute Eindruck bestätigt, vielleicht sogar noch übertroffen. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, sich zu entscheiden?
Ich würde dringend empfehlen: ja. Stattdessen gibt es Folgegespräche, mit Kolleg: innen, Abteilungs- und Teamleiter :innen, dem Chef aus Übersee, mit weiteren Gesellschaftern (die im Erst- oder Zweitgespräch krank, verhindert oder im Urlaub waren), mit Vertreter:innen des Mutterkonzerns, gern auch einmal auf Englisch, und wen es noch so alles gibt. Der Prozess zieht sich schon jetzt unnötig in die Länge, und die Kandidaten fangen an, sich erste Gedanken zu machen, mit wem sie noch alles sprechen „müssen“, Verzeihung: „werden“.
Der Druck wird immer größer? Wieso, man ist doch erneut eine Runde weiter und seinem Ziel ein Stück nähergekommen. Ja? Wie dem auch immer sei, jedes weitere Gespräch fordert erneut höchste Konzentration und Performance der Bewerber :innen. Neue Gesichter, erzähle ich jetzt alles wieder von vorn? Nein, dann langweilt sich mein Gesprächspartner aus Gespräch 1, 2 oder 3. Kürze ich nun ab, dann könnten sich die neuen Unternehmensvertreter fragen, ob ich zu wenig Input geliefert hätte. Das ist ein enormer Druck, den die Unternehmen zu ignorieren scheinen.
Irgendwann sind der Gespräche genug geführt. Wer nun denkt, dass sich die Vertreter des Arbeitgebers entscheiden, dem rufe ich zu, „nicht selten weit gefehlt“, denn im Zeitalter von Assessment und einer Vielzahl an psychologischen Persönlichkeitstests, die u. a. Verhalten, (intrinsische) Motivation, Empathie, Durchhaltevermögen, mentale Fähigkeiten und vieles mehr testen, ist der Auswahlprozess noch nicht beendet.
Nun möchte man die Eindrücke, die man in der Vielzahl der Gespräche gewonnen hat, bestätigt wissen. So ein bis zwei Tests müssen wir noch machen, nur um uns ganz sicher zu sein. Mittlerweile nimmt dieses Verfahren enorme Ausmaße an Zeit, Anspannung, Stress und Geduld an. Ganz zu schweigen von der Hoffnung, diesen Job zu erhalten.
Und genau jetzt kommt nicht selten der Punkt, an dem nicht die Unternehmen, sondern die Kandidat :innen die Reißleine ziehen, um sich selbst zu schützen und für sich diese unendliche Geschichte zu beenden. Zu groß ist die Erschöpfung, zu weit weg die Hoffnung auf den Job und zu weit entfernt der gute Eindruck, den man vom Unternehmen hatte.
Zum oftmaligen Unverständnis der Unternehmen zieht man seine Bewerbung zurück. Es bleiben erschöpfte, aber auch teilweise erleichterte Kandidat :innen auf der einen und Unternehmensvertreter, die Kosten produzierten und Zeit verschenkten auf der anderen Seite.
Schade, denn es hätte alles so unkompliziert sein können. Ade Du toller Kandidat, es hat wohl nicht sollen sein. Vielleicht auf ein andermal – nie wieder.
Eine sehr interessante Studie von glassdoor ergab Folgendes. Ich zitiere 1:1.
Mit Blick auf diese Auswertung wird schnell klar, dass die Auswahl an Instrumenten im Bewerbungsprozess gut durchdacht sein muss, um unter der von den Bewerber:innen gewünschten Dauer von 14 Tagen zu bleiben. Bereits ein Telefoninterview in Verbindung mit einem persönlichen Bewerbungsgespräch und einem Intelligenztest kann dafür sorgen, dass sich der Bewerbungsprozess auf über 2 Wochen erstreckt.
FAZIT: Es liegt bei den Unternehmen, ihre Prozesse zu verbessern und vor allem ihre Kommunikation transparenter und vielleicht auch zugewandter zu gestalten. Denn Bewerber:innen, die sich zurückgesetzt fühlen und insgesamt den Bewerbungsprozess als eine schlechte Erfahrung erleben, gehen dem betreffenden Unternehmen nicht nur als potenzielle:r Mitarbeiter:in, sondern im schlimmsten Fall auch als Kunde verloren, so berichten es Teilnehmer:innen der Studie.
Leider erlebe ich in meiner Eigenschaft als Personalberater bei HAPEKO solche Situationen ebenfalls. Meine Empfehlung, gestalten Sie Prozesse zeitnah und unterschätzen bitte den „dünnen“ Arbeitnehmermarkt nicht.
Vielleicht konnte ich mit diesem Artikel etwas sensibilisieren. Ich stehe den Unternehmen gern für Gespräche zur Verfügung und Ihnen, in meiner Eigenschaft als marktstrategischer Sparringspartner selbstverständlich auch.
Bitte bleiben Sie gesund, herzliche Grüße
Michael H. Hahl