Der unsichtbare Markt: Warum die besten Talente unter dem Radar bleiben und HR sich neu erfinden muss
Nur ein kleiner Ausschnitt des Arbeitsmarkts ist sichtbar, nämlich die zwei bis drei Prozent der ausgeschriebenen Jobs. Wie wir aus dem Stellen- einen Chancenmarkt für Talente machen und aufhören, Potenziale zu verschenken.
Viele der Gespräche, die ich im Moment führe, drehen sich um das Thema Neubesetzung von Stellen und das Finden passender Kandidaten. Und immer öfter wird mir klar: HR, wie wir sie kennen, funktioniert so auf Dauer nicht mehr. Denn weiterhin haben viele Unternehmen große Schwierigkeiten, Fachkräfte, Auszubildende oder einfach nur das richtige Match für einen offenen Job zu finden.
Daran ändern auch die leider aktuell gestiegenen Arbeitslosenzahlen nicht viel. Warum ist das so? Genau hier wird es spannend. Denn alle Unternehmen befinden sich im Wettbewerb um Talente. Wir sehen aber immer nur einen kleinen Ausschnitt des Arbeitsmarkts, nämlich die zwei bis drei Prozent der Stellen, die normalerweise gerade vakant und ausgeschrieben sind. Den großen Rest übersehen wir.
Das ist so ähnlich, als würde Google nur zwei Prozent aller Suchergebnisse anzeigen – der Rest bleibt unsichtbar. Unvorstellbar, oder? Genau das passiert aber tagtäglich auf dem Arbeitsmarkt. Hart formuliert: Wir verweigern Talenten 98 Prozent ihrer Chancen.
Alte Lösungen funktionieren nicht für neue Probleme
Stattdessen warten Jobsuchende auf Gelegenheiten und Unternehmen auf den Zeitpunkt, an dem sie Stellen neu besetzen müssen – aber viel zu selten passiert beides gleichzeitig. Wir reden ständig vom Fachkräftemangel. In Wahrheit ist es auch ein Sichtbarkeitsproblem. Arbeitgeber erfahren nicht von passenden Kandidaten, der Großteil der Stellen bleiben für potenzielle Kandidaten unauffindbar.
Das Resultat: Talente sind unzufrieden, Unternehmen suchen vergeblich nach dem besten Fit. Es wird Zeit, das Recruiting-Radar neu zu kalibrieren und die Chancen zu nutzen, die der Arbeitsmarkt wirklich bietet.
Die Chancen, Talente zu finden, waren selten besser: In unserer Wechselbereitschaftsstudie geben 36 Prozent der Befragten an, grundsätzlich offen für einen neuen Job zu sein. Und der Gallup Engagement Index zeigt: Nur neun Prozent der Beschäftigten fühlen sich ihrem Arbeitgeber emotional eng verbunden, rund 113 Milliarden Euro gingen der deutschen Wirtschaft 2024 aufgrund von innerer Kündigung und daraus resultierenden Produktivitätsverlusten verloren.
Hinter all diesen Zahlen schlummert jede Menge Potenzial. Hier verpufft wertvolle Energie, weil Menschen ihren Job lustlos machen. Sie wären woanders mit Sicherheit besser aufgehoben.
Unbequeme Wahrheiten
Ein blinder Fleck vieler Unternehmen verstärkt diesen unglücklichen Effekt: die mangelnde Wertschätzung von Initiativbewerbungen und der unprofessionelle Umgang damit. Wer sich ohne Ausschreibung meldet, sendet das stärkste Motivationssignal, das ein Arbeitgeber sich wünschen kann – landet aber häufig im Niemandsland. Keiner fühlt sich zuständig, keiner antwortet. Chance verschenkt. In anderen Fällen bekommt man eine wohlmeinende Absage, weil gerade keine passende Stelle vorhanden sei.
Unser gerade erschienener Arbeitsmarktreport 2025 zeigt allerdings: 58 Prozent der HR-Verantwortlichen in Unternehmen wollen im nächsten Jahr Personal aufbauen – also warum nicht versuchen, eine Stelle für jemanden zu schaffen, dessen Skillset hervorragend ins Unternehmen passen würde?
Stattdessen sind wir immer noch viel zu reaktiv. In einem Arbeitsmarkt, in dem der Fachkräftemangel real ist, Belegschaften altern und Qualifikationsprofile sich wandeln, werden Flexibilität und Entschlussfreudigkeit im Hiring zur harten Währung.
Ein weiterer Kardinalfehler im Recruiting: keine längerfristige Personalplanung zu haben, weil das Budget gerade eng ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Zeiten sich schnell ändern können. Wer nicht ausreichend Mitarbeitende hat, wenn die Geschäfte wieder anziehen, muss hektisch die Lücken füllen – selten mit wirklich guten Resultaten. Wer ohne Plan B Infrastruktur abbaut, startet im Aufschwung mit Panik und leerer Pipeline.
Ein wenig Mut zum Risiko muss man dabei schon haben. So wie Aldi bei der Expansion in die USA: keine Kette aufgekauft, keine Läden übernommen, sondern erst mal die Lager- und Lieferlogistik auf die Beine gestellt – um dann durchzustarten. Kann schiefgehen. Viel öfter allerdings geht es gut. Man muss sich nur trauen.
Wachstum durch Wechsel: Warum wir einen Transfermarkt für Talente brauchen
Umso verwunderlicher, dass „Post & Pray“, also das Schalten von Stellenanzeigen und dann darauf hoffen, dass sich die passenden Kandidaten schon melden werden, auch heute noch Alltag in vielen HR-Abteilungen ist.
Dass es auch anders geht, macht das 2020 gegründete Nordsee-Kollektiv vor. Es übersetzt das Solidarprinzip ins Recruiting: Hier haben sich mehrere Hotels zusammengetan, um gemeinsam zu rekrutieren: (Initiativ-)Bewerbungen werden gesammelt und dann geschaut, wo Bedarf ist. Gemeinsame Crew Houses, Fitnesscenter und Unternehmungen gehören dabei ebenfalls zum Angebot für neue Mitarbeitende. Das Funktionieren eines solchen Modells setzt allerdings viel Flexibilität voraus – nicht nur bei den betreffenden Unternehmen, sondern auch bei den Mitarbeitenden.
Die Frage, die Unternehmen sich heute stellen müssen, lautet nicht „Passt jemand exakt zu meinem Suchprofil?“, sondern „Können wir zusammenwachsen und dabei zusammen wachsen?“.
5 Hebel für die Wiederbelebung des Recruitings
Wie aber kommen wir davon weg, immer nur die zwei Prozent zu sehen? Wie machen wir aus einem Stellenmarkt einen Chancenmarkt?
Chancen unter dem Radar nutzen: Eine Stellenanzeige lebt ein paar Wochen, Chancen gibt es jeden Tag. Wer nur dann sucht, wenn eine Stelle frei wird, sieht immer nur die Spitze des Eisbergs. Darunter liegen Entwicklungspfade, interne Wechselmöglichkeiten, Kontakte aus Netzwerken – alles unsichtbar, solange wir Recruiting rein reaktiv betreiben. Wir müssen das Unsichtbare sichtbar machen, bevor es dringend wird.
Talent-Ökosystem statt Recruiting: Der perfekte Fit? Ist oft der, den man noch nicht sieht. Ein Talentpool ist keine Excel-Liste. Alumni, Talente, ehemalige Praktikanten, Menschen aus Projekten und Konferenzen – alle gehören in ein Netzwerk, das kontinuierlich gepflegt wird. So kann aus jedem Kontakt ein potenzieller Mitarbeitender werden. Und genau daraus entstehen die besten Matches.
Talententwicklung vorantreiben: Recruiting darf nicht beim Eingang einer Bewerbung enden. Es geht darum, Talente langfristig zu begleiten: durch Weiterentwicklung, interne Mobilität, Learning-Angebote. Wer Potenziale fördert, baut automatisch Bindung auf – und sorgt dafür, dass Talente sich weiterentwickeln können und bleiben wollen.
Gesamte Organisation involvieren: Recruiting ist Teamsport. Jede Führungskraft ist Talent-Scout, jedes Teammitglied kann Kontakte einbringen. Viele Unternehmen unterschätzen diesen Hebel: „Mitarbeitende werben Mitarbeitende“ klingt nach Nebenbei-Aktion, ist in Wahrheit aber einer der stärksten Kanäle für das Recruiting. Schneller, ehrlicher und effektiver als jede Stellenanzeige.
Digitale Belege statt schöner Worte: Technologie muss nicht glänzen, sondern ihren Zweck erfüllen. Jeder kann heute ein perfektes Anschreiben mit ein paar Prompts formulieren – überzeugend, aber austauschbar. Was zählt, sind überprüfbare Fakten. Digitale Nachweise für Qualifikationen. KI, die Muster erkennt und Potenziale sichtbar macht – so werden ehrliche Matches wahrscheinlicher.
Im letzten Schritt allerdings greift meist das Bauchgefühl erfahrener Personaler. Und das ist gut so. Denn genau diese Mischung aus Technik und Intuition macht erfolgreiches Recruiting aus.