Die "Diagonalisierung" der Wirtschaft

Fundamentales, geradezu Epochales geschieht gerade: Es vollzieht sich nicht weniger als die Ablösung des industriellen Zeitalters durch die neue digitale Welt. Damit verändert sich zugleich das Organisationsprinzip der Wirtschaft. Über 150 Jahre hinweg haben wir Produktionsprozesse in Wertschöpfungsketten zerlegt, durch Arbeitsteilung und Spezialisierung enorme Effizienzpotenziale realisiert und durch Handel und Logistik wieder zusammengefügt. Dadurch haben sich hocheffiziente Verticals gebildet: die Automobilindustrie, die Chemische Industrie oder auch Dienstleistungsbranchen wie Banken oder Versicherungen. An diesem Prinzip haben wir alle gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme ausgerichtet: unser Bildungssystem, unser Innovationssystem, unsere Führungskultur und unseren Sozialstaat. Wer nach dem Abitur oder dem Studium einen Berufsweg einschlug, musste sich für eine Branche entscheiden und sich festlegen. Die Berufswahl war bis heute eine der wichtigsten Lebensentscheidungen überhaupt, denn ein späterer Wechsel schien fast ausgeschlossen.

Diese Logik wird in Zukunft in ihr Gegenteil verkehrt. Denn nun steht mit der Digitalisierung die bedeutendste Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft seit der Industrialisierung an. Durch einen technologischen Sprung in eine neue Qualität der Organisation von Prozessen verändern sich zugleich fast sämtliche soziale, ethische und kulturelle Beziehungen. Das Prinzip der Digitalisierung ist die ultimative Vernetzung von Lebensbereichen und Branchen durch den sofortigen und mobilen Austausch von Daten. Die Dynamik des Vernetzungsprozesses ist daher notwendig exponentiell und so auch die Disruption.

Wie aber können wir mit exponentieller Dynamik und Disruption umgehen? Welche Strategie, welchen systematischen Umgang mit simultaner Komplexität und exponentiellen Veränderung können wir auf die Transition anwenden? Die Antwort ist die digitale Diagonalisierung der industriellen Strukturen. Die traditionellen Verticals werden durch eine Reihe von digitalen Innovationen miteinander verbunden. Plattformen, KI, Blockchain und andere technologische Innovationen ziehen horizontale Verbindungen in unser Gerüst der Verticals. Die Folge sind Integration und Vernetzung - nicht nur zwischen den Branchen und Industrien, sondern auch zwischen den Technologien. So werden zum Beispiel die Plattformen zunehmend mit KI und Blockchain interagieren. Und so entstehen diagonal zu den Verticals und den Querschnittstechnologien neue Felder für Innovation, Geschäftsmodelle und Märkte.

Die Diagonalisierung von Prozessen und Strukturen ist somit die Methode der Transformation. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir Unternehmertum, Führung, Innovationstätigkeit und Bildung neu denken. Wir müssen experimenteller leben und arbeiten. An die Stelle von vertikaler Arbeitsteilung und Spezialisierung treten diagonale Kollaboration und Interdisziplinarität. Sie sind die Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir für die "diagonale Gesellschaft" brauchen - als Voraussetzung für den Umgang mit simultaner Veränderung und die Bewältigung von exponentieller Disruption. Zugleich entsteht entlang der Diagonalen ein systematisches Regulierungsvakuum, welches es zu schließen gilt, um gewünschte Entwicklungen zu ermöglichen und unerwünschte Entwicklungen zu unterbinden. Für das sehr industrielle Deutschland stellt die digitale Transformation somit eine geradezu kulturelle Herausforderung dar.

Prof. Dr. Henning Vöpel schreibt über Weltwirtschaft, Digitalökonomie

Professor für Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School sowie Direktor des Centrum für Europäische Politik in Berlin, Rom und Paris, Podcaster zur Digitalisierung und internationaler Keynote-Speaker, Forschung zu Globalisierung und Transformation.

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