Erfahren, aber digital abgehängt? Weshalb Vorurteile gefährlich sind und wir Silver Worker dringend brauchen
Warum die Generation 55+ eine Superpower ist und wir dringend über Altersdiskriminierung sprechen müssen.
Das Durchschnittsalter aller deutschen Bundeskanzler bei Amtsantritt liegt bei gut 60 Jahren – in der Politik ist eine Karriere als Silver Worker offenbar jederzeit möglich. Höheres Alter wird mit Erfahrung, Weitsicht und Kompetenz gleichgesetzt. Im Berufsleben hingegen erleben viele ältere Beschäftigte genau das Gegenteil: Sie gelten plötzlich als zu wenig dynamisch, überfordert von der heutigen Technik und mental schon halb im Ruhestand. Seien wir ehrlich: Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Darum ist es mir wichtig, dass wir als Unternehmen und als Gesellschaft den Wert der Generation 55+ wieder stärker in den Fokus rücken.
Denn diese Generation ist die der wahren Early Adopter, die die Digitalisierung von Anfang an miterlebt hat. Sie ist mit dem Wählscheibentelefon groß geworden, hat ihre Texte für die Uni noch auf der Schreibmaschine geschrieben und das Fax als große Arbeitserleichterung gefeiert. Heute jongliert sie souverän mit Smartphone, Rechner und Datentransfers über die Cloud. Sie bringt jede Menge Flexibilität, umfassende Erfahrung, nachweisliche Erfolge und große Motivation mit.
Viele von ihnen haben mehrere Berufswege durchlaufen, sich ständig weitergebildet und Veränderungen mit hoher Frustrationstoleranz gemeistert. Und trotzdem kassieren viele, die sich auf Jobs bewerben, Absage nach Absage. Auch wenn der Grund unausgesprochen bleibt, ist er klar: Das Alter ist der Stolperstein. Manchmal ist es eine vermeintliche oder existierende Überqualifikation, oft wird auch das im Vergleich zu weniger erfahrenen Arbeitskräften zu hohe Gehalt ins Feld geführt. In den meisten Fällen allerdings schlägt der Bias zu. In einer Zeit, in der Diversity in Sachen ethnischer Herkunft, sexueller Identität, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung für uns Alltag ist, bleibt höheres Alter eine der großen Hürden im Bewerbungsprozess.
Übersehene Leistungsträger
Tatsache ist: Rund ein Viertel der Erwerbstätigen in Deutschland ist über 55 Jahre alt, das sind rund 12 Millionen Menschen. Bis zum Ruhestand kann es für diese Altersgruppe also noch zwölf Jahre dauern – Jahre, in denen sie ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Leistungsbereitschaft in Unternehmen einbringen könnten. Jahre, in denen sie aber kaum jemand noch einstellen will.
Aber warum ist das so? Wir haben nachgefragt und Interviews sowohl mit Recruitern als auch mit Jobsuchenden über 55 geführt. Aus Sicht derjenigen, die eine neue Stelle suchen, ist Altersdiskriminierung leider Alltag, wird aber kaum thematisiert. Die sowieso schon als stressig und belastend empfundene Jobsuche wird so noch mühsamer. Viele suchen in diesem Alter auch einen Job, in dem sie bis zur Rente bleiben können – ein Aspekt, der in Zeiten zunehmender Wechselbereitschaft jüngerer Generationen Stabilität für Unternehmen mit sich bringen kann.
Trotzdem sind HR-Verantwortliche gespalten. Einerseits bringen ältere Beschäftigte Erfahrung, Verlässlichkeit und oft ein großes Netzwerk mit. Andererseits sind die Kosten für Gehalt, gesundheitlich bedingte Ausfälle oder in einigen Fällen auch Weiterbildung höher. In manchen Branchen, die wie Fertigung/Produktion, Handwerk oder Baugewerbe unter starkem Fachkräftemangel leiden, sind sie jedoch gern gesehene Kandidaten.
Generation 55+: unverzichtbar und doch oft unerwünscht
Unsere Zahlen bestätigen die Einschätzung der Interviewten. Bei der von uns im vergangenen Jahr durchgeführten Diversity-Studie hat rund ein Drittel (35 %) der Beschäftigten zwischen 50 und 67 Jahren angegeben, Benachteiligung im Bewerbungsprozess erlebt zu haben, fast genauso viele (34 %) beklagen Altersdiskriminierung im Berufsalltag. In weit über der Hälfte der Fälle (57 %) geht sie von der direkten Führungskraft aus. Besonders häufig erlebten die Betroffenen, dass ihnen Aufgaben unter ihrem eigentlichen Anforderungsprofil zugeteilt wurden oder Weiterbildungsangebote verwehrt blieben.
Abgesehen davon, dass Diskriminierung – egal aus welchem Grund – immer indiskutabel ist, verschenken Unternehmen hier ein riesiges Potenzial. Denn noch etwas spricht für die Generation 55+: nicht nur ihre aktuell hohe Leistungsbereitschaft, sondern auch ihr Wille, über das offizielle Renteneintrittsalter hinaus weiterzuarbeiten. Laut unserer Wechselbereitschaftsstudie können sich das insgesamt 13 Prozent aller Beschäftigten vorstellen – bei den Babyboomern (61+) ist es jeder Vierte (25 %). Und dabei geht es noch nicht einmal in erster Linie um Geld: 70 Prozent möchten im Kopf fit bleiben, 56 Prozent soziale Kontakte pflegen, 50 Prozent persönliche Sinnerfüllung finden – engagiertere Arbeitskräfte kann man sich kaum wünschen.
Was wir gewinnen, wenn wir umdenken
Wer das Potenzial der Generation 55+ erkennt, profitiert mehrfach. Unternehmen gewinnen an Stabilität, Erfahrung und Perspektivenvielfalt. Ältere Mitarbeiter können als Mentoren und kulturelle Anker fungieren, gerade in Zeiten zahlreicher Transformationen. Und nicht zuletzt leisten sie einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung des Fachkräftemangels. Es geht darum, eine Unternehmenskultur zu schaffen, die auch ältere Mitarbeiter ausdrücklich willkommen heißt. Und das bedeutet zuerst einmal, die eigenen Recruitingprozesse kritisch unter die Lupe zu nehmen. Sind wir wirklich so offen für Diversität, wie wir denken? Und bei den Arbeitszeitmodellen ist Flexibilität Trumpf: Von Minijob bis Teilzeit ist alles möglich.
Das ist nicht nur im Interesse eines fairen und inklusiven Miteinanders, sondern hat auch glasklare unternehmerische Vorteile. Denn wir brauchen diese Menschen – mit ihrer Erfahrung, ihrer Haltung und ihrem Engagement. Altes Eisen sieht anders aus.
Wie sehen Sie das, gerade als jüngere Arbeitnehmer oder als HR-Verantwortliche? Haben Sie vielleicht selbst schon Altersdiskriminierung erlebt? Ich freue mich auf den Austausch.