Fremdsein in der Welt – im Schreiben zu Haus
„Wie mir die Nase gewachsen ist (und ich hoffe, das ist noch leidlich grad), folge ich ihr – frage nicht wie und warum.“ Anschaulicher kann Chamissos wunderliches Wesen, das ihn nicht für jedermann willkommen machte, nicht umschreiben.
Seine Weltanschauung hat ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren. Das zeigt auch der Autor Sebastian Guhr mit seinem Roman „Chamissimo“, der das Leben des Weltbürgers, Dichters und Naturforschers von der Kindheit bis zum Tod erzählt. Geboren wurde er 1781 auf Schloß Boncourt in der Champagne. Schon in seiner Kindheit und Jugend schloss er sich von seiner alltäglichen Umwelt ab und suchte Einsamkeit und Stille. Im Familienkreis nannte ihn die Mutter wortkarg und ungesellig. Von seiner einzigen Schwester Madeleine wird er als Einzelgänger geschildert, der im Schlossgarten von Boncourt gern seinen eigenen Gedanken nachging. 1792 schließt sich der Comte, der zum lothringischen Uradel gehört, dem Emigrantenheer des Herzogs von Broglie an. 1793 wird das Stammschloss zum Kauf angeboten und – da es keinen Käufer findet – zum Abriss freigegeben. Die Stationen der Familie, dessen Wappen Sebastian Guhr in seinem Roman ausführlich beschreibt, lassen sich erst ab 1794 genau verfolgen.
Im Mai 1796 erhält Chamisso in Berlin, wo er zunächst als Porzellanmaler in der Königlichen Manufaktur arbeitet, eine Stelle als Page bei der Königin Louise. 1798 wird er zum Fähnrich im Infanterie-Regiment von Götze ernannt. Erste dichterische Versuche fallen in den Anfang des Jahres 1802. Mit dem Zusammenbruch des preußischen Staates beginnen für Chamisso erneut unruhige Jahre der Wanderschaft. Desillosioniert geht er zunächst nach Frankreich, kehrte aber 1807 nach Berlin zurück. Von Mai bis Oktober 1813 hält sich Chamisso in Kunersdorf im Oderbruch auf. Hier entsteht seine weltberühmte Geld- und Schattennovelle „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“.
Mit Hilfe seines Experten und Beraters für Nautik, Admiral Krusenstern, erarbeitet Nikolai Petrowitsch Graf von Rumjanzow den Plan für diese ausgedehnte Reise. Sie dient dem Doppelzweck, sowohl bestimmte Teile der Südsee zu erforschen als auch die Möglichkeit einer Nord-Ost-Passage durch die Bering-Straße in die Arktis und von dort in den Atlantik auszukundschaften. Die Ergebnisse seiner geographischen, geologischen, botanischen und ethnographischen Beobachtungen fasst Chamisso unter dem Titel „Bemerkungen und Ansichten“ zusammen. In seinem „Tagebuch“ der Weltreise notiert er, daß es ihm in seinen Verhältnissen auf dem Schiff wie überhaupt in der Welt ging, wo nur das Leben das Leben lehren kann. Er hat die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre und das Leben auf ihr, besonders im Pflanzenreich, gründlicher kennen gelernt, als vor ihm irgend ein Mensch. In seinen Zwanzigern bereiste auch der Autor Sebastian Guhr Westafrika, China und Kanada - inzwischen ist das für ihn aber nichts Besonderes mehr, „und außerdem gleichen sich die Weltgegenden immer mehr an.“ Bei seiner Recherche zum Roman überraschte ihn übrigens, „wie globalisiert die Welt zu Chamissos Zeiten schon war. Ich selbst reise heute lieber in Büchern, da findet man noch das wirklich Unbekannte.“ Ihn fasziniert vor allem, wie sich der Naturforscher und Dichter ständig an der Grenze zu einer anderen Sprache und Kultur bewegte.
Wo er auch ging, stieß er sich an der Welt und zeigte dadurch, wie sie ist. Die Herausforderung bestand für Sebastian Guhr darin, aus verschiedensten Facetten eine Geschichte zu machen. So werden zwar die wichtigsten Stationen im Leben Chamissos beschrieben, doch nimmt er sich als Autor auch einige Freiheiten heraus. So gibt es im Roman die Figur des grauen Mannes, dem Chamisso in seinem Leben immer wieder begegnet. Ihn gab es in Chamissos Leben nur in der Schlemihl-Novelle. Chamisso „erfand“ den teuflischen Verführer, noch bevor Goethe den zweiten Teil seiner Faust-Dichtung schrieb. Der Gelehrte, der mehr wissen will, als er wissen dürfte, begibt sich hier bereitwillig unter das Joch der Eile, die bekanntlich des Teufels ist. Die Befriedigung in der Bewegung klingt wesensmäßig auch in Chamissos Dichtung an. Peter Schlemihl ergeht es mit den Siebenmeilenstiefeln wie dem Zauberlehrling mit dem Besen aus Goethes berühmter Ballade. In den Dienst genommen, gerät das wundersame Werkzeug unversehens außer Kontrolle. Es führt ein nicht mehr steuerbares Eigenleben, und die menschlichen Schwellenwerte werden überschritten. Die Anstrengungen, die absolute Zeitgrenze erfahren zu wollen, verhelfen scheinbar zu ewiger Jugend, denn wer schnell ist, bleibt jung. Peter Schlemihl wird, nachdem ihn die Siebenmeilenstiefel mit äußerster Geschwindigkeit über die Grenzen der Gegenwart hinausbefördert haben, zum umherirrenden Fremdling, dem zwischenmenschliche Beziehungen fortan misslingen.
Als Kontrast zum ständigen Unterwegssein hat Chamisso am Ende seiner Schlemihl-Dichtung die Gestalt des Anachoreten, des Weltentsagenden, gewählt (im Buch nicht erwähnt). Die Versenkung in sein Inneres, das als etwas Unheimliches und Abgründiges von Sebastian Guhr im Roman beschrieben wird, ist verknüpft mit der Wahl eines außerzeitlichen Aufenthaltsortes - der thebanischen Wüste. Das ist auch biographisch bedingt. An Friedrich de la Motte Fouqué, den er im Juli 1806 bei Hameln kennenlernte, schrieb er am 17. November 1810: „Mangel an Talent für die Welt und Abneigung gegen dieselbe (wechselseitige Ursache und Wirkung, die sich steigern) sind mein Einsiedler-Beruf; ich habe keine Lust am Spiele der Welt, ich habe auch keinen Ort in ihr, ich bin nicht Herrscher, nicht Diener, kein schaffender und schafflustiger Künstler - ein Gelehrter kann ich auch nicht sein. - Ich wollte nur wohlwollenden Gesinnungen leben, in die Stille und die Dunkelheit mich zurücke ziehen und mit leisem Sinn für Natur und Kunst mein Leben zieren. - Bei anderen religiösen Begriffen, nach schmerzlicher Verzichtleistung, zu der ein guter Anfang gemacht, würd‘ ich wohl im Gebirge eine Klause bauen und Eremit werden.“
Solche Zitate sind nicht im Buch zu finden, sondern die eigenen Sätze des Autors, der an einem Tinnitus leidet und dies auch auf seine Romanfigur überträgt – für ihn auch eine passende Metapher für das „Unheimlichwerden des eigenen Inneren“. Er sagte, dass er nicht „mit zu viel Respekt an die historische Figur und die Zeit“ gegangen ist – er wollte „das sinnliche und spannende Erzählen keinesfalls der historischen Korrektheit opfern.“ In einem Roman ist alles möglich – diese literarische Form braucht keine präzise Quellenarbeit, es wird das ausgewählt, was zum eigenen Autorenleben und zur Romanidee passt. Niemand muss seine Quellen, die er für Romane nutzt, angeben – aber es wäre mitunter doch angebracht, um auch den kreativen Prozess und die eines Autors nachzuvollziehen. Dass das gelingen kann, zeigt zum Beispiel die Lagerfeld-Biografie in Romanform von Heike Koschyk, in der das eigene Eingreifen erläutert und belegt wurde und Quellenverzeichnisse angeführt sind. Ein solches Fundament gibt einem Roman auch Stabilität. Kaum jemand wird das bei Sebastian Guhr bemängeln, weil das Buch ein eigenständiges Kunstwerk ist. Und doch hätte ich mir mehr gewünscht – ein Vor- oder Nachwort, in dem das erläutert ist, was Agenturen zum Erscheinen des Buches als Interview separat verschicken. Für sein Buch hat Sebastian Guhr vieles lesen – „das hat ein ganzes Jahr in Anspruch genommen. Auch Literatur über Südsee-Expeditionen und allgemeine Geschichtswerke waren darunter. Und natürlich habe ich einige Orte seines Lebens besucht. Besonders hier in Berlin ist er ja in der Stadt präsent, sein Grab befindet sich auf dem Friedhof am Halleschen Tor, nur wenige Schritte vom Grab seines Freundes E.T.A. Hoffmann entfernt.“
Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren von Essays bis zu Hörspielen mit ihm und pflegte über Jahre einen Briefwechsel mit der letzten deutschen Namensträgerin Dorothea von Chamisso. Umso gespannter war ich auf den angekündigten Roman „Chamissimo“. Was ist das Neue, über das noch nicht geschrieben wurde? Kann ich noch überrascht werden? Die große Überraschung ist der Bezug zum Autorenleben, mit dem sich wohl die meisten Schreibenden identifizieren können: „Sein Körper war ein Reservat für all das Glück und den Schmerz, die er durch die Bücher aufnahm; sein Körper war dazu da, das Gelesene zu ermöglichen.“ Chamisso wird in einer lesenden, abgekapselten Daseinsform beschrieben. Er war zwar ein Einzelgänger, aber nicht zwischen Büchern und seiner inneren Welt eingekerkert. Er war „Natur“ – und so schrieb er auch. Mühsam rang er mit der Sprache, wenn ihn Worte und Bilder von der "Seite der linken Pfote" bewegten. Die Zeit, Kunstwerke zu schaffen, mußte erst ausgesäet werden, auf dass sie reife, so seine Grundanschauung. Denn alles bleibt ohne Farbe und Bedeutung, wenn es nicht aus dem Leben begründbar und in ihm verhaftet ist. Die Wirklichkeit ist allein durch Denken nicht zu fassen: "Am Anfang war die Tat." Dieses Goethe-Zitat war für Chamisso wie ein Glaubenssatz – er ging von einem Erleben aus, das sich zur Erfahrung keltert.
Dass die Lektüre des französischen Philosophen und Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau Chamisso nachhaltig beeinflussten, ist seit 1799 belegt. Während sich Chamisso in jungen Jahren in Coppet (Schweiz) aufhielt, entdeckte er – wie Rousseau - seine Liebe zur Naturwissenschaft und wandte sich von philosophischen Spekulationen ab. Seither hat er vieles auf sich beruhen lassen, vieles zu wissen und zu begreifen Verzicht geleistet und ist, seinem geraden Sinn vertrauend, seiner inneren Stimme gefolgt. Wissen ist, was erlebt und verstanden worden ist. Während seiner Reise um die Welt notierte Chamisso in sein Tagebuch, dass es ihm in seinen Verhältnissen auf dem Schiff so wie überhaupt in der Welt erging, wo nur das Leben das Leben lehrt. Was das Leben damals von diesem jungen Mann forderte, war tätiges Leben. „Das war mir anschaulich, und ich tat also.“ Mit diesem Satz kennzeichnet er den wichtigsten Wendepunkt seines Lebens. Drei Jahre vor der Niederschrift seines Peter Schlemihl hat Chamisso einem Freund nach Frankreich geschrieben, „daß der Teufel das bißchen Philosophie holen soll, wenn sie nicht unmittelbar ins Leben übergeht.“ Chamisso war kein Philosoph oder philosophisch gebildeter Mensch. Ich las zwar philosophische Texte - aber nicht systematisch. Nur auf seinen Erfahrungen beruhte im Großen und Ganzen sein Weltbild.
Er bemerkte und betonte er immer wieder, das er seine literarischen Texte nicht gemacht habe, sondern die Zeit. An Karl Bernhard von Trinius schrieb er 11. April 1829: „Wenn ich selber eine Absicht gehabt habe, glaube ich es dem Dinge nachher anzusehen. Es wird dürr, es wird nicht Leben. [...] Der Schlemihl ist auch nicht anders entstanden.“ Vielen Lesern wird seine erzählte Figur Peter Schlemihl, die unübersehbare Elemente eines Selbstbildnisses enthält, möglicherweise auch im Buch von Sebastian Guhr fremd und unverständlich bleiben. Und das darf sie getrost, denn ein Schlemihl benennt in der gewöhnlichen Sprache der Juden einen ungeschickten Menschen, der seiner Umwelt als ein Rätsel erscheint. Er ist ein Unbehauster, ein vom Spott verfolgter Pechvogel. Anderssein heißt demnach auch, allein mit sich selbst zu sein, verkannt und zurückgewiesen zu werden. Das häufig gemeinte Scheltwort "unbeholfener Träumer" gilt ihm als Ehrentitel.
Zweifellos und zum Glück eine Bestätigung dafür, dass sich große Literatur nicht dem ersten Eindruck ergibt. In der Vorrede zur zweiten Auflage der französischen Übersetzung, zu der Chamisso das Vorwort schrieb, nahm er eine späte und ironische Interpretationshilfe vor. Ausgehend von der physikalischen Definition des Schattens, geht es im Peter Schlemihl um das Solide. „Die Finanzwissenschaft belehrt uns hinlänglich über die Wichtigkeit des Geldes: die des Schattens ist minder allgemein anerkannt. Mein besonnener Freund hat sich nach dem Gelde gelüsten lassen, dessen Wert er kannte und nicht an das Solide gedacht.“ Im Chamissoischen Sinne ist dies die Seite der Persönlichkeit, die sich nicht durch die Scheinwerte einer vordergründigen und flüchtigen Welt bestechen lässt.
Stets blieb er ihm das „centrum gravitatis“ und der „Probierstein aller Gedanken“. Am 25. September 1819 heiratet Chamisso Antonie Piaste, eine Ziehtochter Hitzigs. Er kennt sie schon als Kind, doch wagt er kaum zu hoffen, von der damals gerade Achtzehnjährigen das Jawort zu erhalten. Bis zu seiner Eheschließung sind etliche seiner Gedichte durch einen melancholisch-lebensmüden Ton gekennzeichnet. In den Augen seiner Familie war die Verbindung mit einer mittellosen Bürgerlichen etwas Unerhörtes, doch ließ sich Chamisso davon nicht beeindrucken. Knapp ein Jahr vor Chamissos Tod, am 21. Mai 1837, stirbt seine Frau. Die folgenden Erinnerungsbilder, die Chamisso kurz vor seinem Tod „aufgingen“, zeigen, wie der Dichter die Anwesenheit der untergegangenen Vergangenheit erzwingt. Chamisso schreibt in der letzten Zeit vor seinem Tod im Rückblick auf sein Leben: "Ich werde alt, das Gedächtnis für die jüngste Zeit geht mir aus, und mich erschrecken Töne, Worte, Bilder aus meiner frühesten Kindheit, die mir unversehens aufgehen [...], und ich träume nur vom Schlosse Boncourt und dem Regiment Götze, kaum einmal von meiner Frau, kaum von meinen Kindern, denen ich doch lebe [...] ich fühle wohl, daß es Abend ist."
1819 wird er zum Ehrendoktor der Berliner Universität ernannt, einige Tage später wird er Mitglied der Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin. Ernennungen folgen im April 1833 zum ersten Kustos am Königlichen Herbarium und im Januar 1835 zum Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Von Februar bis April 1838 arbeitet Chamisso an den Nachdichtungen der Lieder Bérangers. Am 21. August stirbt er in Berlin und wird zwei Tage später auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor begraben. Am Dienstag, den 28. August, notiert Varnhagen in sein Tagebuch: "Alle Tagesblätter gedenken des guten Chamisso in großen Ehren! Möchte Aristoteles Recht haben, daß die Todten noch für hiesige Eindrücke längere Zeit empfänglich bleiben, ihnen Gutes widerfahren könne! In der letzten Nacht, eh er starb, sprach er phantasierend immerfort französisch: die ursprüngliche Eigenart brach hervor, er starb wie ergeboren wurde, als Franzose." Es ist dem Roman von Sebastian Guhr, Jahrgang 1983, zu wünschen, dass er dazu beiträgt, Chamisso neu zu entdecken. Auch wäre es eine Freude, wenn weiteres zu Chamisso geplant ist. Wem es wirklich um Nachhaltigkeit geht, der bleibt dran und sieht Projekte des Augenblicks auch als Samen für etwas Größeres. Vielleicht war es mir deshalb auch nicht möglich, nur über den Roman zu schreiben, sondern ihn als Gefäß zu sehen, das von uns selbst zu füllen ist.
Sebastian Guhr. Chamissimo. Roman. Marix Verlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2022.
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