Gefühle haben im Job nichts zu suchen? Kranke Arbeitswelt!

Emotionen haben im Berufsleben nichts verloren – diese Meinung begegnet mir in letzter Zeit häufiger. Warum es gerade jetzt so wichtig ist, Leidenschaft und Freude sowie auch Ängsten und Sorgen Raum zu geben. Jede Emotion hat ihren Wert. Lassen wir sie zu.

„In meiner Freizeit kann ich emotional sein und Gefühle zeigen, im Beruf brauche ich das alles nicht!“ Solche Aussagen höre ich immer wieder im Coaching. Wer weint, zeigt Schwäche. Wer Angst offenbart, ist ein Weichei. Selbst Freude an der Sache oder gemeinsames Lachen zählt inzwischen für viele Angestellte mehr zum Privatvergnügen als zum beruflichem Alltag.

Gefühle haben im Job nichts zu suchen. Diese Meinung hält sich hartnäckig – Tendenz gefühlt zunehmend – und ich höre sie besonders oft im Gespräch mit erfahrenen Führungskräften, kollegial enttäuschten Mitarbeitenden und von jungen Berufseinsteigern. Ganz ehrlich, in einem Team, das zum Lachen in den Keller geht, würde ich nicht arbeiten wollen.  

Freude im Beruf ist Emotion pur 

Mit fast allen meinen Klientinnen und Klienten spreche ich intensiv über ihre Werte im Beruf. Also das, was ihnen im Arbeitsleben persönlich wirklich wichtig ist. Was sie benötigen, damit sie motiviert sind, gesund bleiben und in ihrer Rolle bei einem Arbeitgeber erfolgreich einen guten Job machen. Am Ende bleiben von 24 Begriffen die drei bis vier ihrer wichtigsten Werte übrig. Bei allen, die ausgelaugt, gelangweilt oder höchst frustriert von ihren Jobs zu mir ins Coaching kommen, sind genau diese Werte allesamt und oft schon lange Zeit nicht mehr erfüllt. 

So saß mir neulich auch Andreas gegenüber, dessen Namen ich geändert habe, er aber zugestimmt hat, dass ich hier über ihn schreibe. Leidenschaft, Sinn, Gerechtigkeit und Freude kristallisierten sich als seine Top-Werte heraus. Er blickte nachdenklich auf das Ergebnis und ich fragte ihn, was ihm durch den Kopf gehe. „Das ist aber alles ganz schön emotional“, sagte er – und fügte hinzu: „was wirft denn das für ein Bild auf mich?“ Es war ihm sichtlich unangenehm, schließlich seien doch solche Werte für einen erfolgreichen Manager im Business nicht angebracht, dachte er laut.

Andreas ist kein Einzelfall. Die vermeintlich karriereorientierten „harten“ Werte in meiner Auswahl, wie etwa Erfolg, Herausforderung, Geld, Status oder Einfluss schaffen es deutlich seltener ins Finale als die eher emotional aufgeladenen Werte – insbesondere bei jenen Berufserfahrenen, die bereits viel Schmerzensgeld auf ihrer Karriereleiter verdient haben.

Es geht ihnen vielmehr um die Leidenschaft, mit Herzblut für ein Thema dabei zu sein. Das Spüren von Sinn, etwas Positives bewirken zu können. Das gute Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Team. Das Erleben von Selbstverwirklichung, auch angestellt die eigenen Stärken und Talente optimal einbringen zu können. Die Freiheit, mitgestalten, Entscheidungen treffen und einen echten Unterschied machen zu können.

Diese Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle sind es, die für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute die Basis für Freude im Beruf sind. Aber hey, was soll’s, Gefühle haben im Job ja nichts verloren. ;)

Ein kranker Gedanke, nicht wahr? Wie können wir Sinn erleben, ein ehrliches Miteinander im Team erfahren, Leidenschaft für etwas entwickeln, im Flow begeistert die Zeit vergessen und abends zufrieden und womöglich sogar erfüllt einen Arbeitstag beenden, wenn wir unsere emotionale Seite zwischen Ein- und Ausstempeln vorsätzlich verbannen? 

Freude oder Frust – jede Emotion hat ihren Wert

Zusammen lachen, Leidenschaft spüren und Erfolge feiern sind okay, doch Trauer, Wut oder Angst gehören bitteschön im sogenannten professionellen Umfeld unterdrückt?

Wir haben gelernt oder glauben daran, unseren für andere sichtbaren Ausdruck unterschiedlicher Emotionen im Berufsleben als etwas erlaubt Gutes oder aber als etwas gesellschaftlich Verpöntes, im Job Verbotenes zu bewerten. Tränen lachen verbindet, Tränen weinen grenzt aus? Echt verrückt!

Es gibt für mich keine negativen oder positiven Emotionen. Jede Emotion hat als Ausdruck, Reaktion oder Signal unseres Körpers ihre Berechtigung und irgendeinen Wert in einem Kontext. So haben Freude, Lust, Leidenschaft oder Neugierde die gleiche Berechtigung, wie Angst, Sorge, Wut oder Trauer. 

Gerade zu Beginn eines Coachings, wenn mir Klienten von ihrer sie belastenden Situation im Job erzählen möchten, beginnen manche von ihnen zu weinen. Es ist ihnen allen unangenehm und viele sagen „Ich hatte mir doch eigentlich fest vorgenommen, hier nicht zu weinen.“ Ich reiche eine Packung Taschentücher und sage, dass es dazugehören darf.

Jede Emotion hat ihren Wert. Lassen wir sie zu. Sehen wir hin. Nutzen wir sie.

Ich merke, wie wichtig es für sie ist, diesen Druck einmal loszulassen – oft bevor ich ihnen auch nur eine einzige Frage gestellt habe. In meiner Coaching-Ausbildung habe ich gelernt, nicht im Problem „herumzurühren“ – schließlich ist der Lösung das Problem egal. Heute weiß ich, dass es für viele Menschen wichtig ist, in unserem geschützten Rahmen zuerst einmal über ihre Ängste, Sorgen oder die Wut auf ihren Ex-Chef zu sprechen, bevor die Luft rein für das Entwickeln guter Lösungen ist.

Nur wer Emotionen zeigt, kann Verständnis erwarten 

Zurück in die Arbeitswelt. Wie kann und soll eine Führungskraft erkennen, dass es einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin schlecht geht, wenn wir alle vermeintlich negativen Emotionen aus dem Berufsalltag verbannen? Wie kann ein Team auf die Sorgen oder Ängste von Kolleginnen oder Kollegen unterstützend reagieren, wenn Weinen nur hinter verschlossener Toilettentür geschieht? Wie sollen wir selbst neue Stärke erfahren können, wenn wir Zeiten der Schwäche unsichtbar machen? 

In Verständnis steckt verstehen. Wer nicht die Chance bekommt, das Denken oder Handeln anderer Menschen zu verstehen, kann selbst kein Verständnis für eine sie belastende Situation oder Mitgefühl für ein freudiges Ereignis entwickeln. Wie können wir selbst mit uns und unserem Berufsleben im Einklang sein, wenn wir uns für diesen großen Teil des Lebens den Blick auf unsere Emotionen verbieten? Wie können wir erwarten, dass uns andere verstehen, wenn wir bei uns selbst wegschauen?

In Job-Ratgebern wird oft und gern über richtiges Feedback geben geschrieben. Was mir bei vielen dieser Feedback-Regeln zu kurz kommt, das ist die emotionale Seite. Es reicht nicht, die eigene Beobachtung objektiv zu beschreiben, ohne Zeigefinger Ich-Botschaften auszusenden und einen Wunsch für die Zukunft auszusprechen, wenn mein Gegenüber nicht verstehen kann, was sein oder ihr Verhalten zuvor emotional mit mir gemacht hat. „Warum reagiert er/sie denn jetzt so?“, ist die zentrale Frage, die für den Empfänger eines Feedbacks unbeantwortet bleibt. „Das hat mich geärgert/verunsichert/frustriert/wütend/traurig gemacht“ sind solche empathischen Aussagen, die ein wirkungsvolles Feedback für ein Gegenüber erst verständlich und damit auch leichter annehmbar machen. 

Sicherheit durch gute Beziehungen und Verbundenheit gewinnt in Krisenzeiten umso mehr an Bedeutung 

Wem es bis hierher noch nicht genug an Slaghuis’scher Emotionen-Werbung war, für den setze ich noch einen Grund obendrauf, warum ich für mehr sicht- und erlebbare Emotionen im Joballtag plädiere. Wir alle sind durch die anhaltenden Krisen in der Welt mental mächtig angeschlagen – und es ist gefühlt keine Besserung in Sicht.

Sogar das Homeoffice hat inzwischen seinen Glanz von selbstbestimmter Freiheit und lässiger Arbeit in Jogginghose verloren. Stattdessen hören wir von Vereinsamung und sozialer Kontaktphobie. Arbeitskräftemangel, viele unbesetzte Stellen und hohe Fluktuation haben in etlichen Organisationen den Druck im Team der Verbliebenen auf ein Belastungsmaximum ansteigen lassen. Ich habe in den Coachings oft das Gefühl, alle rudern nur noch vom Krisenmodus ausgelaugt irgendwie im Tagesgeschäft herum und betreiben hektisches Baustellenmanagement. 

Wann, wenn nicht jetzt, könnte es denn wichtiger sein, wieder stärker das Gefühl von Verbundenheit, Sicherheit, Freude und womöglich sogar Erfüllung im Beruf zu spüren? Mehr von alldem zu erfahren, was uns im Leben und im Beruf so wichtig ist. Als Ausgleich und positive Kraftquelle für unser persönliches Energiemanagement. In dem Maß, das uns persönlich guttut.

Der Trend, den ich über die letzten Jahre beobachte, (zwischen-)menschliche Emotionen als unwichtig deklariert aus dem Job zu verbannen, stimmt mich daher umso nachdenklicher. Denn es ist nicht die hohe oder dicke und kalte Mauer, die uns vor Verletzung oder Schwäche im Berufsleben schützt, hinter der wir in Sicherheit Freude im Beruf vermuten. Es sind unsere Stärken und auch Schwächen, unsere Persönlichkeit und Empathie, die Beziehungsebene zu anderen Menschen und das Gefühl von Zugehörigkeit, das verbindet, Kraft gibt und das Gefühl von Freude im Beruf befeuert.

Spricht etwas dagegen, trotz Krisen und Zukunftsängsten mehr gemeinsam zu lachen, stolz auf Erreichtes zu sein und Erfolge zu feiern? Sollte nicht gerade jetzt auch genauso Platz für Ängste und Sorgen sein? Um uns echt zuzuhören, aufrichtig mitzufühlen und gegenseitig zu unterstützen.   

Abends mit einem guten Gefühl nach Hause gehen – das ist es, was sich die meisten meiner Klientinnen und Klienten heute sehnlichst wünschen. Wir alle benötigen hierfür unterschiedliche Job-Spielwiesen und Rahmenbedingungen. Doch klar ist: Dies kann nicht gelingen, wenn wir im Job keine Emotionen zulassen oder sie so gut wie nur möglich professionell unterdrücken.

Falls du jetzt Lust bekommen haben solltest 😊 – was kannst du auf deine Art für dich persönlich sowie in deinem Umfeld ab heute dazu beitragen, deinen sowie den Emotionen anderer mehr oder eine veränderte Aufmerksamkeit zu schenken?

Wie erlebst du die aktuelle Arbeitswelt und die Stimmung bei euch im Team? Spielen für dich Emotionen im Beruf eine Rolle – und falls ja, wie lebst du diese aus? Bist du der Meinung, Gefühle haben im Job nichts verloren, interessiert mich auch deine Sichtweise oder Erfahrung.  ✍️  

Dr. Bernd Slaghuis schreibt über Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 2.000 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.

Artikelsammlung ansehen