Mehr Gemeinsinn, weniger Egoismus: Was unsere Gesellschaft jetzt braucht
Die Bewältigung der Corona-Pandemie erfordert einerseits soziale Distanzierung (Abstand halten) und andererseits soziale Solidarität (Zusammenhalt). Sie führt uns vor Augen, wie wichtig Gemeinschaften sind.
Häufig werden sie mit bestimmten Orten assoziiert. Es gibt allerdings noch viele andere Arten von Gemeinschaft (Vereine und Verbände), die durch gemeinsame Werten und Normen zusammengehalten werden und sich durch aktives Handeln auszeichnen: zwischenmenschlich und direkt. Alle Gemeinschaftsmitglieder spüren, dass das, was sie tun, richtig ist, weil sie in ihrem Handeln einen tieferen Lebenssinn finden und die eigenen Stärken in den Dienst einer höheren Sache stellen.
Wo allerdings Egoismus herrscht, zerfallen diese Bindungen bzw. wird eine stärkere Gemeinschaftsorientierung verhindert. In ihrem aktuellen Buch „Das Ende der Gier“ fordern die Ökonomen Paul Collier und John Kay, dass die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss. Es braucht auch „einen leistungsfähigen Staat, der Dinge tut, die Einzelne und Gemeinschaften nicht gut erledigen können, der sich jedoch nicht um Dinge kümmert, von denen er nichts versteht.“ Die Wirtschaftswissenschaftler erinnern uns daran, dass der Mensch seinen evolutionären Erfolg nicht dem Egoismus, sondern seiner sozialen Natur verdankt. In gut funktionierenden Gesellschaften knüpfen und pflegen Menschen ein Netz aus sozialen Kontakten, die auf Gefälligkeiten und wechselseitigen Verpflichtungen beruhen, zu denen der Homo oeconomicus nicht fähig wäre.
Der scheinbare „Erfolg“ solcher Menschen muss möglichst auffallend sein. Bescheidenheit erlauben sie sich nicht. Collier wuchs dagegen in einer Kultur auf, wo es beschämend war, über sich selbst zu sprechen und das eigene Ego aufzublasen – und so lautet auch die These von „Das Ende der Gier“: „Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss.“ Die Grenze zwischen Individualismus, bei dem die „performative Selbstdarstellung“ im Mittelpunkt steht, und Egoismus sind in diesem Buch fließend. Allerdings wurde den beiden Wirtschaftswissenschaftlern auch im Studium beigebracht, dass die Gesellschaft aus Menschen besteht, die danach streben, ihren Eigennutz zu maximieren, später haben sie diese Lehrmeinung selbst an ihre Studierenden weitergegeben. Der 2006 verstorbene Ökonom Milton Friedman schrieb vor etwa fünfzig Jahren, dass die soziale Verantwortung von Unternehmen darin bestehe, den Gewinn zu maximieren („The business of business is business“). Collier und Kay kritisieren seinen „Marktfundamentalismus“. Für sie besteht Führungsverantwortung heute darin, dafür zu sorgen, dass Unternehmen nachhaltig wirtschaften und fair mit ihren Stakeholdern umgehen. Der Fokus auf das Aktionärsinteresse habe zu einer „dysfunktionalen Bonuskultur“ mit einer „zersetzenden Wirkung“ geführt.
Paul Collier, Professor für Ökonomie und Direktor des Centre for the Study of African Economies an der Universität Oxford, forscht seit vielen Jahren über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch „Sozialer Kapitalismus!“ wurde 2019 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Ihn überzeugte die Erfahrung in afrikanischen Volkswirtschaften davon, dass Gesellschaften, die aus egoistischen Interessen bestehen und in denen alle Beziehungen rein nutzenbasiert sind, nicht nur zu den ärmsten weltweit gehören und es auch bleiben. John Kay, einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler Großbritanniens, der an der London Business School, der Universität Oxford und der London School of Economics lehrte, erkannte, dass ein rein nutzenbasiertes Unternehmensmodell nichts darüber aussagt, wie erfolgreich nachhaltige Unternehmen funktionieren, und dass die Finanzkrise von 2008 das absehbare Scheitern von Unternehmen demonstrierte, die sich ausschließlich daran orientiert hatten. Nachhaltig ausgerichtete Unternehmen setzen auf Kooperation und profitieren von der intrinsischen Motivation der Mitarbeitenden, sich für ein gemeinsames Ziel einzusetzen.
Viele Unternehmen engagieren sich auch über das eigene Kerngeschäft hinaus. So wie der Baudienstleister und Projektentwickler Krieger + Schramm (K+S): Die Dagmar und Matthias Krieger Stiftung setzt sich für eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft ein, ist Träger von Veranstaltungen, vergibt Stipendien, gibt Unterstützung in Wissenschaft und Forschung, der Förderung von jungen Menschen auf den Gebieten von Kultur und Bildung und der allgemeinen Sportförderung, denn: „Sport initiiert den Gemeinschaftsgedanken und fördert damit den fairen Umgang miteinander.“ Kooperieren nachhaltig ausgerichtete Unternehmen miteinander, erreichen sie gemeinsam mehr, auch sind sie über die gemeinsame Infrastruktur auch wettbewerbsfähiger. Nachhaltige Kooperationen beruhen nach Ansicht der Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, die beim Öko-Versender memo für die Kommunikation verantwortlich ist, auf Prinzipien wie Zusammenarbeit, Offenheit, der Bereitschaft zu teilen und Integrität: „Es ist vordergründig das gemeinsame Ziel, unserer gesellschaftlichen Verantwortung durch unser tägliches Handeln nachzukommen.“ Was alle im Innersten zusammenhält, ist eine gemeinsame Sicht auf das Leben und die Gesellschaft sowie die Überzeugung, dass auch sie die Kraft der Veränderung sind. Ihr nachhaltiger Erfolg verdankt sich ihrer individuellen Initiative - aber auch deshalb, weil sie Dinge gemeinsam tun.
Geldgier und Profit: Warum wir eine Kultur der Mäßigung brauchen
Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler-Verlag, München 2021.