Moderne Führung heißt: Auch mal Experimente wagen!
Das Thema Führung ist in aller Munde. Dabei gibt es nicht die eine richtige Führungskultur. Erfolgreich sind Unternehmen, die etwas wagen und individuelle Wege gehen. Diese drei Konzerne zeigen, wie.
Organigramm war gestern: So könnte man zusammenfassen, was der Medizinbedarf-Hersteller B. Braun Melsungen erprobt. Die Idee: Die Beschäftigten sollen selbst entscheiden, welche Aufgaben sie bearbeiten und mit wem. So sollen die wachsenden Anforderungen im Arbeitsalltag besser bewältigt und die Arbeit zugleich sinnstiftender werden. „Tasks & Teams“ heißt das Projekt. Mehr als 70 Mitarbeiter*innen der Abteilungen Corporate Communications und Human Resources testen den Ansatz in einem Piloten.
Die Lern- und Experimentierräume des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), die Betriebe darin unterstützen, neue Arbeitsweisen zu erproben, haben diesen Prozess sowie Ansätze weiterer Unternehmen begleitet. Die Beispiele zeigen, wie das Experimentieren in Sachen Führung aussehen kann.
Man ist stärker gefordert, die Initiative zu ergreifen. Man wartet nicht mehr auf Entscheidungen oder Beauftragungen. Man muss unternehmerisch denken.Dr. Wolfgang Koller, Projektmanager bei B. Braun Melsungen
Das Pilotprojekt bei B. Braun Melsungen bedeutet im Kern nichts anderes als die Abschaffung von Hierarchien und das volle Vertrauen in die Mitarbeiter*innen, sich ihre Arbeitspakete und Teams selbst zusammenzustellen. Gearbeitet wird vernetzt in Kreisen, unternehmensintern Circles genannt. Für größere Aufgaben bildet sich demnach ein Arbeitskreis, der lose und flexibel organisiert ist, sich selbst steuert und sich nach Erfüllung der Aufgabe wieder auflösen kann. Dabei entscheidet jede Gruppe selbst, in welcher Form sie zusammenarbeiten möchte.
Dazu gehört auch die Frage, wie man in einem hierarchiefreien Umfeld wie diesem Entscheidungen trifft. Hierüber einigen sich die Teams im Vorfeld. Die meisten Kreise folgen dabei dem sogenannten Konsentprinzip. Das heißt: Etwas gilt als entschieden, wenn es keinen schwerwiegenden Einwand gibt. Eine klassische Führungskraft braucht man dafür nicht. Begleitet wurde B. Braun im Prozess übrigens von einem Start-up, das half, sich mit den Prinzipien selbstorganisierten Arbeitens vertraut zu machen.
Vertrauen statt Regeln
Auf „Startup-Feeling“ setzt auch die Technologieberatung P3 Group. Denn nach außen tritt P3 zwar als einheitliche Gruppe auf, gearbeitet wird jedoch in rund 35 kleineren, agileren Tochterfirmen, in die die Holding nur bei personeller oder finanzieller Schieflage eingreift. Stattdessen bilden die rund 200 Führungskräfte aus den Tochterunternehmen, die regelmäßig zusammengebracht werden, die „Netzwerkknoten“ im Konzern.
Der Führungsstil auch hier: von unten und ohne feste Vorgaben. Das heißt, die Mitarbeiter*innen stehen im Mittelpunkt. Sie genießen maximalen Freiraum und Unterstützung bei allen Vorhaben, solange diese nicht gegen die Unternehmenskultur verstoßen, etwa unternehmerisches Denken oder die Beteiligung der Beschäftigten. Das Ergebnis: viel Verantwortung, denn eine Scheinsicherheit durch formale Prozesse existiert nicht.
Vor allem aber ist solches Arbeiten nur möglich, weil Scheitern erlaubt und dies in der P3-Unternehmenskultur fest verankert ist. Denn wenn Experimente gelingen sollen, dürfen die Mitarbeiter*innen keine Angst haben, vor einem Kunden zu „versagen“ oder eine Idee auch mal wirtschaftlich in den Sand zu setzen. Das lässt sich sogar absichern. So gibt es bei P3 beispielweise vorherige Risikoanalysen oder Projekte werden parallel zusätzlich nach altbewährten Methoden umgesetzt.
Keinen Chef haben – die Erfahrung zeigt, dass das viel mehr Freiheit und Energie gibt und dass Menschen anfangen aufzublühen, wenn sie Dinge tun dürfen.Dr. Christof Horn, Geschäftsführer P3 Group
Doch wie findet man Kolleg*innen, denen solches Arbeiten liegt? Indem man auch den Einstellungsprozess anders gestaltet. Bei P3 führt deshalb nicht die Personalabteilung die Auswahlgespräche, sondern z. B. ein*e Fachexpert*in. Damit sitzen den Bewerber*innen die Personen gegenüber, die den Arbeitsbereich ohnehin am besten kennen.
Warum Unternehmen davon profitieren, Verantwortung an die Beschäftigten abzugeben, erklärt P3 Group-Geschäftsführer Dr. Christof Horn im Video:
Mitgestaltung der Unternehmensstrategie
Führen durch Beteiligung an der Firmenstrategie ist der Weg der Stoll Gruppe. In dem Familienunternehmen im Bereich Energietechnik und Anlagenbau können alle 200 Beschäftigten die Unternehmensstrategie und Unternehmenskultur mitgestalten. Das Tool dazu: das „integrierte Mitarbeiterseminar“. Dabei stellt die Geschäftsführung zunächst allen Mitarbeiter*innen, unabhängig von der Funktion, in einer „strategischen Begründung“ die Strategie für das nächste halbe Jahr vor. Anschließend diskutieren die Beschäftigten das Vorhaben in kleinen Gruppen. Sie stellen Fragen, kommentieren oder kritisieren. Die Teamleiter*innen tragen dann der Geschäftsleitung die Ergebnisse vor.
Die Denkmuster aller Mitarbeiter*innen zu verändern, ist ein zu hoher Anspruch. Es ist aber Aufgabe der Führungskräfte, jeden Tag daran zu arbeiten.Markus Stoll, Geschäftsführer Stoll Gruppe
Nach dem Impulsseminar geht der Prozess weiter. Die Gruppen treffen sich alle 14 Tage und erörtern, welchen Beitrag die Beschäftigten zur Umsetzung der Unternehmensstrategie leisten können, außerdem, wie dies messbar gemacht werden kann. Der Effekt: Die Belegschaft fühlt sich der Erreichung der Unternehmensziele stärker verpflichtet. Das macht die Mitarbeiter*innen zu echten Mitverantwortlichen. Dennoch musste zunächst Überzeugungsarbeit geleistet werden. Nicht allen Beschäftigten war von Anfang an der Nutzen des Ansatzes klar. Die Erfahrung, selbst Ideen einbringen und an den eigenen Themen arbeiten zu können, änderte das.
Ob B. Braun, P3 oder Stoll: Es ist vor allem das Vertrauen in die Beschäftigten, Entscheidungen zu treffen und im Sinne des Unternehmens zu handeln, das den Erfolg der Ansätze ausmacht. Denn wer Wertschätzung erlebt, eigene Ideen einbringen kann und auch Raum für Fehler hat, ist eher bereit, sich zu engagieren und unkonventionelle Wege einzuschlagen.
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Service-Info: Mit dem Webportal experimentierräume.de bietet das BMAS eine Plattform, auf der Unternehmen und Verwaltungen durch inspirierende Beispiele Impulse erhalten, um neue Wege in Richtung Arbeitswelt der Zukunft zu gehen. In einer regelmäßigen Artikelreihe werden ausgesuchte Beispiele der Experimentierräume hier vorgestellt.