Nie war Flanieren so vielversprechend wie heute
Warum der Begriff Flaneur heute eine Renaissance erlebt
In Deutschland erlebt der Begriff Flaneur (Spaziergänger) derzeit eine Renaissance, denn er hilft uns zu finden, was wir unterwegs verloren haben: Muße. Ursprünglich meint sie die Zeit, in der sich Menschen konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnten, „die ihren Wert in sich trugen und nicht Mittel zum Zweck waren: Schönheit, Erkennen, Freundschaft, Erotik“. Eine Gesellschaft, die davon ausgeht, dass sie sich Muße nicht mehr leisten kann, wird keinen Anfängergeist ausbilden können. Diesen aber brauchen wir, um bewusst zu leben und immer wieder ins Offene und Ungewisse aufzubrechen. Die Rückbesinnung auf den Flaneur und seine Historie kann dabei ein wichtiger Wegweiser sein, denn er ist nicht nur den Fremden auf der Straße zugewandt, sondern auch dem Randständigen und Unscheinbaren. Er lässt sich absichtslos treiben, ist ein Müßiggänger, der alles mit hellwachen Sinnen beobachtet. Das aufmerksame Spazieren wurde besonders von Walter Benjamin, Jean Baudrillard, Franz Hessel, Siegfried Kracauer und Georg Simmel zur Kunstform erhoben, dessen Ende das Aufkommen des Automobils markiert, das den Fußgänger ablöste.
Der Flaneur wurde zur zentralen Symbolfigur der modernen Stadt. Franz Hessel, der den Deutschen in der Weimarer Republik in mehreren seiner Texte das Flanieren nähergebracht hat, empfahl seinen Zeitgenossen: „Um richtig zu flanieren, darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben. Es empfiehlt sich, nicht ganz ziellos zu gehen. Beabsichtige, irgendwohin zu gelangen. Vielleicht kommst du in irgendeiner Weise vom Wege ab.“ In den Achtzigerjahren gründete der 2003 verstorbene Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt das Fach Promenadologie. Der Spaziergang war für ihn eine Methode, um relevante Fragen zum Menschen und seiner Wahrnehmung zu beantworten: Wie sieht er auf seine Umgebung? Was empfindet er als angenehm? Was nimmt er beim Flanieren wahr? Wie verändert sich das Landschaftsbild, wenn man zu jeder Zeit an jeden Ort gelangen kann? Das Gehen war für ihn die einfachste und intensivste Methode, um Räume nachhaltig zu „erschließen“.
Für Claudia Silber, die beim Ökoversender memo AG die Unternehmenskommunikation leitet, ist ein Spaziergang „ein Akt der Entschleunigung und des Erlebens. Ich spaziere (und gehe nicht!) in aller Ruhe durch die Natur oder durch die Stadt und nehme bewusst Reize auf. Spazieren gehen ist für mich auch eine Art Inspiration, den Kopf frei machen und sich bewusst auf Neues einlassen und Ideen entwickeln.“ Das erleb(t)en auch viele Künstler: Für Ernest Hemingway war Spazierengehen die beste Methode, um Ideen zu entwickeln: „Ich spazierte oft an den Kais entlang, wenn ich mit der Arbeit fertig war oder über etwas nachzudenken versuchte", schrieb er in „Ein Fest fürs Leben". Der Maler Paul Klee meinte sogar, dass man zu Fuß „besser schauen“ könne.
Ähnliche Erfahrungen machte Arianna Huffington: Als sie noch in Los Angeles lebte, kamen ihr viele ihrer besten Ideen beim Wandern (das zugleich auch eine Lichttherapie ist). Wann immer es ihr möglich war, verabredete sie sich zu Wanderungen statt sich mit ihren Freunden oder auch mit den Redaktionsmitgliedern um einen Tisch zu setzen. Die Kunst des Gehens berührt sich mit der Lebenskunst, denn die gemeinsame Schnittmenge ist Selbsterfahrung und Selbstsorge.
Joggen statt flanieren
Während er das 19. Jahrhundert maßgeblich prägte, so ist es im 21. Jahrhundert der Jogger, der durch die Stadt läuft oder vielmehr: rennt. Mit Flanieren hat das nichts mehr zu tun, denn der Jogger wird von den Passanten beobachtet und „erkundet die Stadt also nicht nur von außen. Er ist auch Akteur auf der theatralen Bühne, die der städtische Raum geworden ist“, schrieb die Soziologin Gabriele Klein im KulturSPIEGEL (8/2014). Es gibt heute allerdings auch Menschen, die wie die alten Flaneure die Stadt im Laufen erleben. Dazu gehört die ehemalige deutsche Bundesliga-Fußballspielerin und aktive Sportwissenschaftlerin Tanja Walther-Ahrens. Sie verbindet damit das Gefühl des Sich-Treiben-Lassens: „Vor allem Zeit haben, sich Zeit nehmen um zu schauen.“ Damit verbunden ist für sie das Entdecken von Dingen, die sonst nicht wahrgenommen werden würden: „Menschen die vorbeigehen, Pflanzen, die da anscheinend schon immer standen, aber noch nie gesehen wurden, ein Eichhörnchen, das den Baum hochläuft. Einfach die Schönheit des Alltäglichen wahrnehmen und genießen.“ Ihr Müßig-Gang führt zu einer Entspannung des Geistes, die mit einem bewussteren Sehen einhergeht.
Ähnlich empfindet Claudia Silber, die bei der memo AG die Unternehmenskommunikation leitet. Ein Spaziergang ist für sie „ein Akt der Entschleunigung und des Erlebens. Ich spaziere (und gehe nicht!) in aller Ruhe durch die Natur oder durch die Stadt und nehme bewusst Reize auf. Spazieren gehen ist für mich auch eine Art Inspiration, den Kopf frei machen und sich bewusst auf Neues einlassen und Ideen entwickeln.“
Digitales Flanieren
1938 wird der Schriftsteller Ödön von Horváth auf den Pariser Champs-Élysées von einem Ast erschlagen. Er bummelte durch die Straßen und stellte sich, als ein Gewitter aufzog, unter die Markise eines Theaters, wo ihn der Ast traf. „Mit Horváth stirbt an diesem Tag die Epoche der Kaffeehaus-Bohème. Was der Baum nicht erledigt hat, erledigt wenig später der Krieg, danach sind die Städte anders und die Menschen sowieso.“ Schreiben Max Scharnigg und Friedemann Karig in ihrem sinn- und gedankenreichen SZ-Beitrag „Flaneur im Netz“ (1.10./1./2.11.2014). Darin beschäftigen sie sich auch mit der Frage, ob in der digitalen Kultur noch Platz ist für beobachtende Spaziergänger, und ob das, was heute „Surfen“ genannt wird, nicht die perfekte Entsprechung zu dem ist, was die Kreativen bereits einhundert Jahre zuvor praktizierten:
• Facebook ist das moderne Kaffeehaus.
• Ebay ist ein großer Trödelmarkt.
• Twitter ist das „Geplärr der Zeitungsjungen“.
• Youtube ist das Lichtspielhaus.
• Amazon ist ein endloses Schaufenster.
• Etsy ist eine Handwerkergasse.
• Tinder ist ein Stundenhotel.
• Blogs sind moderne Ateliers.
Allerdings es ist keine Stadt mehr, durch die der Netzflaneur schlendert, und es fehlen auch Mantel, Schirm und Notizbuch. Claudia Silber ergänzt, dass sie beim Flanieren im Netz „Luft, Atmen und Entschleunigung“ vermisst. Während sie bewusst und gewollt einen Spaziergang an der frischen Luft unternimmt, flaniert sie oft „ungewollt im Internet, was auch zeitraubend sein kann“. Die Kommunikationsexpertin ist zuweilen gespalten: Während sie beruflich viel im Netz auf den unterschiedlichsten Plattformen unterwegs ist und um die Bedeutung des Themas Social Media für Unternehmen und Marken weiß, entwickelt sie persönlich eine immer größere Abneigung gegen Internet und soziale Netzwerke.
„Trotz der Arbeit in einem ökologischen (Online-)Versandhandel kaufe ich selbst am liebsten in kleinen Läden, in denen ich Beratung, Kompetenz und Liebe zum Detail gleichermaßen finde. Weiterhin bin ich dem Internet gegenüber - trotz vieler Vorteile - immer skeptischer. Privat (aber keinesfalls beruflich) habe ich mich fast ganz aus den sozialen Netzwerken zurückgezogen.“ Hier zeigt sich zugleich das Ringen zwischen dem alten und neuen Flaneur: Früher suchte er „Schätze“, heute managt er „Input“ und muss viele Instrumente gleichzeitig dirigieren, muss Filter nutzen, um nicht von der Fülle der Informationen erschlagen zu werden und muss bereit sein, „Apps und Algorithmen für sich arbeiten zu lassen“, so Scharnigg und Karig. Digitales Flanieren ist eine beständige und anstrengende Unterscheidung in wichtig und unwichtig.
Ihr Text ist auch als ein Plädoyer für eine unverzichtbare Kultur zu lesen, die wir für die eigene Stabilität und eine tragfähige Gesellschaft brauchen. Und sie zeigt uns, dass wir wieder lernen müssen zu erkennen, dass Typen wie Ödön von Horváth zu allen Zeiten wichtig sind. Auch wenn sie meistens allein unterwegs waren, so waren sie doch nicht nur Einzel-Gänger, sondern hatten auch die Gabe der Empathie. Heute trifft das Gegenteil zu: Wer sich zu empathisch hinausbewegt, „kommt um im Bombardement der Affekte, vulgo Shitstorm und Cyber Mobbing“.
Dies führt uns zum bewussten Schauen zurück. Es kommt nur auf den entsprechenden Um-Gang an: „Trotz oder gerade wegen ihrer unmenschlichen Eigenschaften ist die virtuelle Welt das Beste, was Sinnsuchern und Spaziergängern passieren konnte, nie war Flanieren so vielversprechend. Das Netz ist ein Schlaraffenland, ein Paris für jeden neugierigen Geist. Er muss nur loslaufen und sich vor Gewittern in Acht nehmen.“
Weiterführende Literatur:
Ulrich Grober: Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2006.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.