Nutzen, was gerade da ist: die Welt der Kreativen
Die einseitige Beschäftigung mit der digitalen Welt und das ausschließliche Vertrauen in die Automatik lässt wichtige menschliche Fähigkeiten verkümmern.
Dessen sind sich auch auch die digitalen Großmeister im Silicon Valley bewusst, wo ihre Kinder in Waldorfschulen handwerkliches Arbeiten durch „Basteln“ lernen. Leider gibt es für das deutsche Wort im Englischen keine Entsprechung. „Do it yourself“ wird der Bedeutung nicht gerecht. Der Autor Andre Wilkens plädiert deshalb dafür, das Wort zu internationalisieren, denn das Bedürfnis, dass Menschen trotz fortschreitender Digitalisierung ihre Hände benutzen wollen, wächst weltweit. Basteln ist auf Dinge bezogen, die Körper und Geist gleichermaßen erfüllen und befriedigen, weil ein Wechsel von Hand- und Kopfarbeit stattfindet. Es unterstützt auch darin, sich von einseitiger Konzentration zu regenerieren und etwas über Herstellung und Reparatur zu erfahren.
Häufig wird sie uns mit dem Versprechen verkauft, dass wir dann Kopf und oder Hände frei hätten für die „wirklich wichtigen“ Dinge, sagt der Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer. Kritisiert wird eine Konsumgesellschaft, in der fast alles fertig gekauft und nach kurzer Zeit wieder kaputt gehen kann. Dabei trägt gerade das Basteln dazu bei, die Kreativität zu fördern und in dem Zuge verschiedene Materialien kennenzulernen. Der Umgang mit Werkzeugen wie Schere, Kleber und Malstiften schult unsere motorischen Fähigkeiten.
Viele Kreative arbeiten gern mit dem, was gerade da ist. Die Dinge haben zunächst keine definierte Funktion, sondern werden überraschend eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist Pablo Picassos „Stierkopf“. Der Künstler sagte 1942 dazu: „Raten Sie, wie ich diesen Stierkopf gemacht habe! Eines Tages fand ich unter altem Kram einen Fahrradsattel und daneben eine verrostete Lenkstange. Blitzschnell sind in meinen Vorstellungen beide Teile zusammengewachsen ... Ohne jedes Nachdenken ist mir die Idee zu diesem ‚Stierkopf‘ gekommen.“ Diese Art des Denkens und „Neumachens“ zeichnet viele Kreative aus. Auch die Künstlerin Ingrid Wild, die in Simbach am Inn lebt und arbeitet, nutzt die sie umgebenden Dinge, um etwas Nachhaltiges und Neues zu schaffen. Im folgenden Interview erklärt sie die Hintergründe.
Frau Wild, erklären Sie sich die wiederbelebte Do-it-youself-Bewegung auch und gerade bei jungen Menschen?
Ich denke, dass es wieder m o d e r n geworden ist, was natürlich von den Illustrierten, der Vielzahl von Büchern und TV- Sendungen wiederbelebt wurde. Plötzlich fangen auch sehr junge Menschen an, sich mit Handarbeiten zu beschäftigen, weil auch gekaufte Pullis und Jacken so aussehen, als hätte den die eigene Oma gestrickt. Sie nennen das plötzlich "cool". Was mir schon immer Freude gemacht hat, ist nun in allen einschlägigen Zeitschriften en vogue geworden. Auch Mütter freuen sich offensichtlich und kaufen die nötigen Utensilien.
Warum hatten Sie schon immer das Bedürfnis, etwas mit den eigenen Händen zu tun?
Weil mir meine Mutter das Arbeiten mit Stoffen von Anfang an gezeigt hat, und es mir imponierte, wenn sie für uns Kinder aus großen Stoffresten, Vorhänge, Tischdecken, Kissen und Kleidungsstücke zauberte.
Woran erinnern Sie sich besonders gern?
Nach dem Krieg hatte sie kein Geld für ein Brautkleid, und da fand sie Reste eines riesigen Fallschirms auf einer Steinhalde. Sie schleppte den schmutzigen Packen Fallschirmseide heim und werkelte so lange an den heilen Restfetzen, bis sie ein entzückendes Braukleid daraus nähen konnte. Von meinem Vater lernte ich das Bauen kleiner Möbelstücke, und ich kann noch heute jederzeit einen Schemel oder ein kleines Regal fabrizieren, sofern ich nichts in passender Größe finde. Als mein Schreibtisch für mein kleines "Malstübchen" zu tief war, griff ich beherzt zur Stichsäge und schnitt sozusagen eine breite Scheibe davon ab. Dieses Gerät und anderes Werkzeug sind dafür sehr hilfreich.
Ich kann, sofern es sich nicht um ein elektrisches Gerät handelt, das man nicht öffnen kann, jederzeit ein Bügeleisen, eine Stehlampe und sogar meine alte Nähmaschine reparieren, weil mein Vater darauf bestand, dass ich so etwas lernte. Immer, wenn mir eine hölzerne Wäscheklammer kaputtgeht, kann ich sie wieder gebrauchsfertig machen. Was übrigens gar nicht so einfach ist! Und durch logisches Denken habe ich den Kühlschrank einer lieben Nachbarin repariert, indem ich die Türgewinde anders montiert habe. Es dauerte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatte, dass die Tür nun l i n k s angeschagen war. Aber ein geschäftstüchtiger Händler hatte ihr versichert, dass das Gerät nicht mehr zu reparieren wäre.
Was haben Sie alles selbst gemacht?
Ich nähe lange Sommerkleider aus Leinentischtüchern und farblich passenden Stoffresten, besticke und behäkle sie. Ich bastle Tischsets und nähe Servietten aus Leinenresten und bemale sie, passend zu altem Geschirr, das ich natürlich auch mit Porzellanfarben bemale und im Backofen brenne. Ich baute ein kleines "Schokolädchen" einschließlich winziger Möbel, für mein Enkelkind, das zum Geburtstag mit Geschenken überhäuft wurde und trotzdem sagte: "Das ist das schönste Geschenk, das ein Kind jemals bekommen hat!" Zum 18. Geburtstag wollte ich ihr nicht einfach gewünschtes Geld in einem Kuvert schenken, also habe ich eine Torte samt Kerzen aus Pappe und Papier gebastelt. Das hat allen gefallen. Auch einer DIY-Illustrierten. Wenn ich einen Puschelstoffrest finde, nähe ich ein Tier daraus. Diesmal eine Maus/Ratte, die mir Türen offen hält, wenn es zieht.
Welche Rolle spielen für Sie Aufmerksamkeit, Fantasie, Improvisations- und Kombinationsgabe?
Ich beobachte aufmerksam jeden Gegenstand, aus dem ich etwas Nützliches machen könnte. Und meine Fantasie sowie mein Improvisationstalent helfen mir was Hübsches daraus zu zaubern.
Die Auswirkungen der linearen Herstellungsprozesse der Konsum- und Wegwerfgesellschaft - wir brauchen dringend eine Kreislaufwirtschaft. Dazu braucht es aber auch das Denken in Kreisläufen. Wie kann es schon den Kleinen besser vermittelt werden?
Ich stellte fest, dass das junge Mütter, aber auch Kinderbetreuer und Lehrer schon den Allerkleinsten vermitteln. Eine junge Freundin von mir ist eine Betreuerin in einem Kinderhort in Österreich, und ich freue mich, wenn sie etwas mit den Kleinen macht, was ich ihr gezeigt habe. Immer wieder schickt sie mir Fotos von den Ergebnissen, die gar nicht allzu aufwendig, also am liebsten aus Resten, entstanden sind, und welche die Kinder dann stolz in die Kamera halten.
Möchten Sie etwas hinterlassen, das besser ist als das, was vorgefunden wurde?
Ja, und ich tue mein Bestes in dieser Beziehung!
Künstlerisches „Upcycling": Wertschätzung statt Wegwerfen
Nachhaltigkeit in Bildern. Interview mit Ingrid Wild
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021.
Wolfgang Schmidbauer: Enzyklopädie der Dummen Dinge. Oekom Verlag München 2015.
Ingrid Wild: In Würde jung. E-Book. Amazon 2022.
Andre Wilkens: Analog ist das neue Bio. Metrolit Verlag 2015.